Borgen und Schmausen endet mit Grausen

Es war im tiefsten Frieden irgendwann in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die DDR entwickelte sich still vor sich hin. Die Welt hatte sie weitgehend anerkannt und gewährte ihr Kredit. Ein kleiner, immer wieder lückenhafter, durchaus aber auch zu genießender Wohlstand war erreicht. Er schien sicher. „Tages Arbeit , abends Gäste“ oder Letztere wenigstens am Wochenende bestimmten den Lebensrhythmus. Nichts konnte die Ruhe stören!
Nichts konnte die Ruhe stören? Weil niemand gefragt hatte, wie viel Kredit der „Wohlstand“ verbraucht hatte, waren alle erschrocken, als es ganz plötzlich ans Bezahlen ging. Es war ja gar nicht sicher, ob der „Wohlstand“ die Ursache der klammen Kassen war. Es gab ja noch bewaffnete Organe, Kämpfer an der unsichtbaren Front, Sportlerinnen und Sportler als Diplomaten im Trainingsanzug usw. Das alles brauchte auch Geld, das man nicht hatte. „Borgen bringt Sorgen“, wusste das Volk, und „Borgen ist die Erstgeburt der Armut“. Deshalb hatten Partei und Regierung die Verbindlichkeiten lieber verheimlicht und die Fälligkeiten auch. Das scherte die Kreditgeber allerdings wenig. „Willst Du Dir einen zum Feinde machen, dann borge Dir Geld von ihm.“ Pleite oder teure Umschuldung? Das war die (Überlebens-)Frage! Alles für das Volk, mit dem Volk, durch das Volk, das war die Lösung. Geselligkeit konnte und wollte man nicht absagen oder gar verbieten. Wohl aber konnte man die dazugehörige Kulinarik schmälern. Ohne Vorwarnung blieb das Fleisch in den Läden aus. Fleisch war das letzte verfügbare internationale Zahlungsmittel der Republik. Die Zinsschuld konnte beglichen werden. Schmalhans blieb jedoch für Wochen Küchenmeister.
Nicht jede und jeder ließ sich das ganz widerstandslos gefallen. Es gab den Weg der Eingabe. An seinem Ende stand ein Stadtrat für Handel und Versorgung. Die SED überließ diesen Posten in den Städten und Kreisen meist einer Blockfreundin oder einem Blockfreund (wie in Kamenz z.B. Herrn Tillich, der an dieser Stelle schon Ministerpräsident lernen konnte). Solchem Rat – nomen est omen – oblag die Pflicht zu Beruhigung, Erklärung, Ratschlag. Und siehe da, er machte seinem Posten Ehre. Warum man denn nicht auf tiefgefrorene Hühner umsteige, die es nach wie vor in Hülle und Fülle gebe, war die Frage an den einbestellten Eingeber? In Massenställen gehaltene, nach dem Tode tiefgefrorene Hühner und Hähnchen waren offensichtlich auf den Weltmärkten wenig gefragt. Die Frage war rhetorisch und als Rat zum Ausweg zu verstehen. Es musste jedoch der Ratgeber darüber aufgeklärt werden, dass sich in der Nähe der Kaufhalle, die statt mit Schweinefleisch und Rindfleisch zu versorgen, die tiefgefrorenen Hühner liefern sollte, zwei Wohnheime vietnamesischer und ungarischer Vertragsarbeiter befanden. Deren Einwohnerinnen und Einwohner hatten die Verwandlung des Säugetierfleisches in Kreditraten noch gar nicht bemerkt. Sie aßen nämlich für ihr Leben gern und fast ausschließlich Hühnerfleisch. Das machte selbiges in nämlicher Kaufhalle ebenfalls zur Rarität. „Das muss man doch wissen“, seufzte der Stadtrat und schickte den Unzufriedenen nach Hause.
Tags darauf stand der Wochenendeinkauf an. Voller Sorge, was einen wieder nicht erwarten würde, wurde der Weg zur Kaufhalle angetreten. Vor der stand schon die Leiterin der Einrichtung. „Bevor Sie heute nicht mindestens zehn tiefgefrorene Broiler gekauft haben, lasse ich Sie hier nicht raus“, war die unmissverständliche Bedrohung des Kunden. Der hatte aber auch Unglaubliches angerichtet. Die Tiefkühltruhen der Kaufhalle quollen über vor tiefgefrorenen Hühnerleichen. Alles drohte zu verderben. Preisnachlass als Kaufanreiz war mit den stabilen Preisen nicht zu vereinbaren. Selbst Vietnamesen und Ungarn waren nicht aufnahmefähig genug. Der Täter musste den Schaden begrenzen. Der bescheidene Wohlstand der DDR hatte ihm Gott sei Dank einen Tiefkühlwürfel beschert. Da passten fünf Hühner rein und fünf weitere mussten eben die Wochenendgäste stopfen.
Wie viel von den im Übermaß gelieferten Hühnern, dann doch noch verdarben, ist nicht überliefert. Sicher überliefert ist allerdings, dass ein paar Jahre später auch das Fleisch von Schweinen und Rindern nicht mehr reichte, den restlichen Wohlstand und das, womit man noch so Staat zu machen versuchte, mit zu bezahlen. Aktiva in Form von Produktionsstätten, Wissen im Volk und Immobilien standen den Schulden natürlich gegenüber. Verwertbar wurden sie allerdings erst, als man jene Grenze öffnete, die das alles schützen sollte. Die Republik aber verschwand – oft verramscht zu Schleuderpreisen. „Gegessen Brot ist schwer zu verdienen.“

10.07.2013

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