Archiv des Autors: Peter Porsch

Ideen zu möglichen Perspektiven der Parteiendemokratie

Allem sei das geflügelte Wort vorangestellt, „Prognosen sind äußerst schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Als Quelle werden viele Persönlichkeiten genannt, niemand weiß genau, wer es war, wahr ist es dennoch, getraut haben es sich viele.

Seit den letzten Bundestagswahlen und sicher seit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ist eine Veränderung in der Parteienlandschaft zu beobachten, die möglicherweise auch einen Blick in Varianten der Parteienentwicklung in der Zukunft ermöglicht. Das heißt nicht, dass es so kommen wird, wie sich mögliche Veränderungen andeuten. Wenn es aber so kommen könnte, sind Widerstand gegen und Beförderung von sich andeutender Entwicklung möglich.

Es ändert sich gegenüber der Zeit noch vor etwa dreißig Jahren und natürlich noch deutlich früher, der Charakter der mit Chancen wahlwerbenden Parteien. Es treten neue Parteien in die Konkurrenz ein und es schwinden die Erfolgschancen noch vor Kurzem erfolgreicher Parteien.

Der entscheidende Unterschied betrifft die jeweils erwünschten und zu erreichenden Wähler:innenklientele. Das hat mit grundsätzlichen Veränderungen in der sozialen Ausrichtung der Parteien zu tun. Waren noch für einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, in Österreich, aber auch noch in anderen europäischen Ländern die Parteien meist Milieu- oder Klassenparteien, so haben erfolgreiche Parteien sich zu sogenannten „Volksparteien“ entwickelt. Weber-Fas definiert in seinem „Das kleine Staatslexikon“ Volkspartei „als eine auf Wähler und Mitglieder in allen Bevölkerungsgruppen ausgerichtete politische Partei…“ Damit folgt er dem üblichen Verständnis von Volkspartei, das zwar das Volk als Ganzes als Staatsvolk voraussetzt, es aber in seiner Diversität von Problemsichten und Einstellungen für unterschiedliches Wahlverhalten zugänglich hält. Dies kann sehr verschiedene Ergebnisse zulassen.

Erstens, dass die angesprochenen Wähler:innen sich kaum noch primär aus ihrer gesamten und komplexen sozialen Lage heraus Parteien zuwenden. Sie sondern vielmehr aus einer Komplexität ihrer Lebenswirklichkeit einzelne Faktoren aus, die für ihre Wahlentscheidung prägend sind. Solcher Art begründete Entscheidungen, bleiben dann selten von Dauer. Sie betreffen mit ihren Erwartungen die Zeit einer oder zweier Wahlperioden und führen deshalb weg von Stammwählerschaften hin zu wechselndem Wahlverhalten. Diese Parteien bieten zwar etwas an, das tagesaktuell oder kurzfristig wichtig erscheint, haltbare und langfristige Ziele gesellschaftlicher Entwicklung bieten sie nicht. Es fehlt ihnen eine Utopie.

Zweitens können die unterschiedlichen Parteien in ihrem Streben nach wirkmächtigen Mehrheiten die Diversitäten so weit polarisieren, dass dies politische Kooperation verhindert. Der daraus entstehende Parteienstreit verliert jegliche Produktivität für eine Ausrichtung an gesamtstaatlichen Notwendigkeiten und stößt am Ende viele Wählergruppen ab. Daraus können andere Volksparteien entstehen oder andere Parteitypen gewinnen (wieder) an Bedeutung: Weber-Fas nennt unter anderem Programm- oder Plattformparteien, die auf kurzfristige Wählerwirksamkeit spekulieren oder bestimmte Werte zu verwirklichen suchen. Die Halbwertszeit solcher Parteien ist meist gering. Das alles trägt jedoch zur Zersplitterung der Parteienlandschaft bei, der in der Wahrnehmung der Wähler:innen Potentiale zur Zusammenarbeit für einvernehmliche und längerfristige Regierungsarbeit verloren gehen.

Drittens führt deshalb das Dilemma der Volksparteien zu einem zunächst möglichst populistischen Agieren der Volksparteien. Sie folgen, ansonsten prinzipienlos, Stimmungen mit oft auch demagogischer Politik, die nicht mehr die Chancen in der Diversität des Wahlvolkes sucht, sondern an die Übereinstimmungen im gesamten Volk appelliert, denen politisch Geltung zu verschaffen sei. Das sind oft Ängste oder vorgetäuschte Problemlagen. Konsequent zu Ende gedacht, entstehen „völkisch“ orientierte, nationalistische, rechtsextreme, (neo)faschistische Parteien, die dem nationalen Vorteil, der positiven Bewertung aller nationaler Eigenheiten und der Ablehnung des Fremden als Leitprinzipien folgen. Sie dulden letztendlich keine anderen Parteien neben sich, weil es für sie wegen der angenommenen und propagierten Einheit(lichkeit) des Volkswillens keine braucht. Der Weg führt zwangsläufig von der Demokratie zur Diktatur, die sich – wie aktuell oft zu beobachten ist – als „autoritäre Wende“ in der Führung von Volksparteien anschleicht. Auch wenn aus opportunistischen Gründen solche Parteien zeitweilig als Friedensparteien auftreten, steckt in ihnen der unabweisbare Drang eines jeden nationalistischen Durchsetzungswillens zu Gewalt und schließlich Krieg. Weil man auf diesem Feld nicht verlieren will, gibt man sich oft kooperationsbereit sowie friedenswillig, was sofort aufgekündigt wird, wenn man die Chance des „Sieges“ sieht. Sucht man bei diesen Parteien eine Utopie, so verendet diese in der Apokalypse; allerdings nicht für nationales Kapital, sondern für die Völker. Das macht sie objektiv zu Klassenparteien nationalen Kapitals.

Solche Parteien müssen zwar nicht das Ende der Parteiendemokratie bedeuten, obwohl deren Chancen deutlich minimiert werden und zeitweilig auch gegen Null gehen können. Die Hoffnung liegt im (mehrheitlichen) Widerspruch zu ihnen und im Widerspruch zu sich gegensätzlich gegenüberstehenden Klassenparteien. Freilich sind deren Möglichkeiten momentan schon durch die Existenz von Volksparteien deutlich geschrumpft bis fast verschwunden. Das hat Gründe, denen nachzugehen lohnt.

Fangen wir bei der FDP, der Klassenpartei des Kapitals, an. Ihrem dramatischen Verschwinden bei den letzten Landtagswahlen ging eine Entwicklung voraus, die für die Parteigänger:innen der FDP sogar eher erfreulich sein könnte. Ihr eigentliches Ziel ist ja die Transformation der ökonomischen Macht des Kapitals in gesellschaftliche Macht. So lange es dazu politische Gegenmacht gibt, die das verhindern will und wenigstens tendenziell auch kann (zum Beispiel unverkennbare Arbeiterparteien oder eben konkurrenzfähige Volksparteien), braucht Kapitalismus diese Partei auf dem Feld politischer Auseinandersetzung. Das Ziel der Verwandlung ökonomischer Macht in gesellschaftliche mit politischen Mitteln erreicht Kapital jedoch am besten, wenn politische Macht ökonomischer Macht überlassen wird. Hauptinstrument dafür ist aktuell die Übertragung von öffentlichem Eigentum und öffentlich regulierten Einrichtungen insbesondere der Daseinsvorsorge jeglicher Art in private Hände. Erscheint ein solcher Prozess ausreichend fortgeschritten ziehen sich Wähler:innen von der Kapital(isten)-Partei zurück. Sie sehen den „höheren Zweck“ erfüllt und brauchen diese Partei nicht mehr; auch deshalb nicht, weil diese Partei dann auch ihre inneren Widersprüche, die durch national, regional und global unterschiedliche Kapitalinteressen entstehen, nicht mehr bewältigen kann. Dafür sind Volksparteien besser geeignet, weil sich diese Interessenkonflikte einerseits in der Diversität des Volkes abbilden und sich zugleich um des Erfolges Willen an die Tendenz zur Kapitalisierung von Demokratie anhängen. „Völkische“ Parteien wiederum verschleiern diese Konflikte mit der nationalistischen Tarnkappe und nehmen sie so aus durchschaubarer Politik heraus. Aus der vorgeblich „national, sozialistischen, Arbeiterpartei“ wird zum Beispiel bei der FPÖ in der Agitation die „soziale Heimatpartei“. Wo ist der Unterschied außer in der „entnazifizierten“ Sprache?

Aus der Sicht wünschenswerter Demokratieentwicklung werden Klassenparteien wie die FDP sogar gebraucht. Sie stellen immerhin Kapitalinteressen in politischen Auseinandersetzungen zur Disposition. Allerdings kann das nur Funktionieren, wenn es eine eindeutig an gegensätzlichen Klasseninteressen ausgerichtete politische Gegnerschaft im Parteienspektrum gibt. Das käme zwar einer Partei wie DIE LINKE oder anderen ähnlich ausgerichteten zu, wird jedoch unter unterschiedlichen Aspekten immer wieder in diesen Parteien selbst aufgeweicht. Deshalb stellen sich für diese Parteien die Fragen der Demokratie, der möglichen Kompromisse und des Verhältnisses zum Nationalen. Die klassenspezifische Klärung dieser Fragen ist ständige Aufgabe linker Parteien. Allein so können sie ihre gesellschaftliche Notwendigkeit beweisen, aufrecht erhalten und gesellschaftliches Verhalten beeinflussen.

Hier will ich mich nur an die „Klassenspezifik“ heranwagen. Ihr wohnt der Wunsch nach grundsätzlicher Veränderung der Gesellschaftsstruktur inne. Das meint wesentlich die Verhältnisse des Besitzes von und der Verfügbarkeit über Produktionsmittel. Davon abhängig sind kurz gesagt die Möglichkeiten der Anteilnahme an ökonomischer und politischer Macht. Vom gegenwärtigen Rahmen politischer und soziostruktureller Realitäten ausgehend ergeben sich Möglichkeiten und Aufgaben für eine linke Klassenpartei, die ihr Wirken in der Zukunft bestimmen sollten. Das Erste ist dabei ein offenes und aufgeschlüsseltes Bekenntnis zu den genannten Prinzipien. Das Zweite ist die Umsetzung in aktuelle und langfristig angelegte Politik. Drittens darf dabei der Boden demokratischer Willensbildung und der Durchsetzung des Ergebnisses nicht verlassen werden. Demokratie ist Ziel und Mittel und wird dadurch auch ständig Gegenstand von politischer Auseinandersetzung. Debatten um Demokratie behandeln also auch in jeder Einzelheit immer strategische Fragen. Demokratie muss Systemopposition ermöglichen, im Wunsch nach Veränderung auch soziostrukturelle Gegebenheiten und Besitzverhältnisse betreffen dürfen und diskursive Teilhabe von Vermögens- und aktuellen Machtvorteilen befreien. Das steht natürlich im Gegensatz zu Volksparteien, denen Taktik zur Gewinnung von Mehrheiten, anstatt Strategie zu weiteren Gestaltung von Gesellschaft zumindest Mittel, wohl aber auch dominantes Ziel ist. Es steht aber noch mehr im Gegensatz zu rechtsextremistischen, faschistoiden und faschistischen Parteien, die durchaus strategische Ziele haben und Demokratie als Mittel zum Erreichen des Ziels der Abschaffung von Demokratie missbrauchen wollen.

Ein von Volksparteien beherrschtes demokratisches System hat trotz deutlicher Erosionserscheinungen bis heute ziemliche Macht und Stärke. Etwa 70% der Wähler:innen nutzen es, um politischen Willen auszudrücken, und das ist gut so, denn es macht diese Parteien zu Bündnispartnerinnen im Kampf gegen Rechts. Das ist die eine Seite der Medaille. Volksparteien sind aber auf Grund ihres Wesens auch immer offen für Wege nach rechts, wenn sich entsprechende Stimmungen im Wahlvolk durchsetzen. Die „Brandmauern“ gegen rechts und allem was dazugehört sichern deshalb nicht Volksparteien, sondern sie aufzurichten und aufrecht zu erhalten, ist Aufgabe einer linken Klassenpartei. Hierin ist das Urteil über mögliche Kompromisse mit Volksparteien und deren Grenzen aufgehoben. Linker Blick auf die Gesellschaft muss immer ein Blick von „unten“ sein. Die Interessen, die dieser Perspektive die Richtung geben, können nur die der lohnabhängigen, nur die Ware Arbeitskraft besitzenden und zu deren Verkauf gezwungenen Bevölkerungsteile sein. Weil diesen imperiale Interessen fremd sind und sie auch in überschaubaren Zeiten keine objektiven Interessen an Kriegen haben können, kann eine linke Partei anders als alle anderen Parteien nur eine Friedenspartei sein. Das heißt auch, für die Erreichung von Frieden in einer Welt, die Kriege nicht ausschließt, nur friedliche Mittel einzufordern. Nichts anderes, als dass linken Parteien Nationalismus, Bellizismus naturgemäß fremd sein muss und an die Klasse gebundener Internationalismus ihre Grundidee ist, ist bereits im „Gründungsdokument“ aller linken Parteien, dem „Kommunistischem Manifest“ herausgearbeitet.

Damit bei allem der Wunsch nicht nur Vater des Gedankens bleibt, müssen linke Parteien, Mitgliederparteien „neuen Typs“ werden. Das heißt, sie sind das nicht allein wegen der hohen Zahl ihrer Mitglieder. Diese Mitglieder müssen auch permanent ihre Souveränität gegenüber dem Parteiapparat ausspielen können. Das zu organisieren und abzusichern, ist zwar ein ausgebauter Parteiapparat nötig, zugleich aber braucht es eine innerparteiliche Kommunikation, die die Mitgliedschaft nicht nur in zeitlichen Rhythmen (Parteitage) und durch Delegierte einbezieht, sondern auch jederzeit die Parteipolitik durch Einbeziehung aller Mitglieder bestimmen lässt. Permanente Versammlungsmöglichkeiten stützen das. Es bedarf jedoch auch einer dauernd wirksamen Bildungstätigkeit, die zu kollektiver Erarbeitung von Problemanalysen und Lösungsansätzen befähigt, diese verbindlich hervorbringt und so Subjektivismus in der Partei zurückdrängt.

Nicht zuletzt brauchen wir dringend eine Verbesserung der Kommunikation mit der Bevölkerung. Diese kann aus den Veränderungen der innerparteilichen Kommunikation entstehen, andererseits letztere rückwirkend ebenfalls qualifizieren. Es besteht ein enger Zusammenhang. Für eine neue Qualität reichen keine veröffentlichten Presserklärungen mehr, noch reichen originelle Plakate oder prominente Kandidat:innen. Es muss darüber hinaus leichte und schnelle Zugänge zum Einzelgespräche mit Verantwortungsträger:innen der Partei geben. Zwanglosigkeit ist der Formalisierung und Bürokratisierung solcher Gespräche der Vorzug zu geben. Der Umgang mit den Gesprächsergebnissen ist für die Teilnehmer:innen zu dokumentieren. Das macht ausgebautes ehrenamtliches Engagement vor Ort nötig, was zugleich den innerparteilichen Einfluss der Basis stärkt.

Ohne verbindliche Einbeziehung der Mitglieder und ihre Aktivierung für Parteiarbeit würde die Partei verkümmern und schließlich verschwinden.

Advent für Linke

Für Christinnen und Christen ist der Advent eine hoffnungsvolle Periode des Wartens auf die Geburt des Erlösers. Sie singen, „tauet Himmel den gerechten, Wolken regnet ihn herab“, und gewinnen dabei die Sicherheit der Erfüllung ihres Flehens. „Gabriel flog schnell hernieder, kehrte mit der Antwort wieder, sieh ich bin die Magd des Herrn, was er will erfüll ich gern.“ Jetzt beginnt ein neues Kirchenjahr und ein neuer Versuch, übers Jahr über den Tod des Erlöser hinauszukommen. Seiner Geburt folgen sein Tod und diesem die Auferstehung. Zwar verlässt er die zu erlösende Welt bald wieder gen Himmel, aber er hinterlässt den Glauben an sich und seine historische Mission, worin immer wieder die Kraft auf einen Neuanfang liegt. Christen und Christinnen geht es gut. Sogar ihr Tod wird schließlich im Glauben überwunden.
Und die anderen? Zum Beispiel wir Linken? „Uns aus dem Elend zu erlösen, das müssen wir schon selber tun,“ wird von uns gesungen; kein Vertrauen in einen, der das für uns macht, nicht in Gott und nicht in Kaiser und Tribun. Eine Menge aber an Selbstvertrauen, schon seit geraumer Zeit, mit unterschiedlichem Erfolg, am Ende aber nur mit Niederlagen. Fehlt uns ein Gott oder liegt es an uns selbst? Es liegt an uns selbst. Eine niederschmetternde Erkenntnis, die uns auch unsere Vordenker:innen hinterlassen haben. Wir sind unsere eigenen Messiasse. Nur wir können uns unseren eigenen Advent schaffen. Sein glückliches Ende verschwand jedoch immer wieder in der Enttäuschung. Freilich auch die gebiert unsere eigene Verantwortung.
Der Zeugungsakt ist der Streit. Kein Streit um die Wahrheit, kein Streit um den richtigen Weg zu Erlösung, nur ein Streit um das Recht-haben. Was dem Streit Richtung und Ergebnis geben könnte, nämlich kluge Worte von „Klassiker“ genannten Menschen, werden selbst zum Gegenstand meist unversöhnlichen Streits um ihr richtiges Verständnis. Deshalb bleibt die Geschichte der Linken eine Geschichte der Spaltungen, sprich: der einfachsten, aber erfolglosesten Lösungen von Dissens. Einigkeit von Linken war nur selten und immer nur für kurze Zeit vor der nächsten Spaltung im Diskurs erreichte Einigkeit. Zeitweilig war sie erzwungene. Ach ja, erzwungene Einigkeit hielt zwar länger, endete aber in noch größeren Misserfolgen.
Was tun? Jetzt die Frage gestellt, hilft auch Lenin nicht mehr. Langsam kommen Zweifel auf, ob Linke wirklich die Richtigen sind, um das in der Geschichte zu bewirken, was sie sich selbst als Aufgabe vorschreiben. Wohlgemerkt, es geht um Die „Linken“, nicht um eine Partei „Die Linke“ oder wie auch immer sie heißen mag, die aber den Anspruch vertritt, Menschen zu befähigen, ihre Geschichte selbst zu machen. Letzteres wird aber wegen der real existierenden und real existierend gewesenen Linken immer mehr zur Schimäre.
Die Konservativen und Konterrevolutionäre von Rechts bis in unsere Reihen haben uns den Fetisch Eigentum und Geld zum Erhalt ihrer Einheit voraus. Selbst als Linke vorgaben, (Volks-)Eigentum geschaffen zu haben, wurden es von seinen Sachwaltern sofort aufgegeben, als andere danach griffen, und niemand war da, um es zu verteidigen. Wir waren wieder blank, nur mehr ausgestattet mit unseren Ideen – aber genau in denen lauerte immer die Spaltung. Die Theorie wurde zerstörerische Gewalt, als sie uns zwar ergriff, aber keine nachhaltige, ständig neu zu überprüfende, gegen Angriffe resistente Praxis schuf.
Ihre Sicherheit war labile, undemokratische Gewalt, die auf Überzeugung der Massen pfiff. „Genossen, mit der Macht lassen wir nicht spielen“, sagten jene, die nicht wussten, was zu machen wäre, als man ihnen die Macht nahm.
Gibt es dennoch einen linken Advent?
Die Antwort ist „Nein“, sagt die mittlerweile Jahrhunderte überdauernde Erfahrung. Die Antwort muss „Ja“ sein, fordert eine vielleicht schon Jahrtausende überlebende Sehnsucht. Marx und Engels, die originären Träger der dialektischen Einheit von linker Sehnsucht, Vernunft und auch schon einiger einschlägiger Erfahrung müssen nicht in jedem Punkt und Komma zu den ersehnten und akzeptierten Erlösern werden, wohl aber im „messianischen“ Kern ihrer Aussagen. Diese sind nicht göttlichen Ursprungs (der größte Vorteil, weil sie sonst nur von Menschen erdacht wären, nicht jedoch erkannt), sie fußen vielmehr in rationaler Analyse des „So-Seins“ gesellschaftlicher Welt sowie der Extrapolation ihrer möglichen menschlichen Zukunft. Ihr „Manifest der Kommunistischen Partei“ war zunächst eine analytische Abrechnung mit allen zeitgenössischen Spielarten von „Sozialismus“. Es kam ein bunter Reigen zusammen, in dem nicht Harmonie der Bewegung angesagt war, sondern jede Menge Dissonanzen und Fußtritte. Es ging um den „kleinbürgerlichen Sozialismus“, um den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“, den „konservativen oder Bourgeoissozialismus“ und schließlich den „kritisch-utopistischen Sozialismus oder Kommunismus“. Sie begründeten sich alle in enttäuschten oder erdachten Klasseninteressen, in (frommen) Wünschen und in eingebildetem Sendungsbewusstsein. Vor der gesellschaftlichen Realität konnten sie als Zukunftskonzepte nicht standhalten.
Wir wissen das alles seit langem, wir haben das alles schon oft gelesen, wir kennen der Weisheit letzten Schluss: Es sind Klassen in der Gesellschaft, die im Kampf Geschichte machen, und es ist die Arbeiterklasse, die das Tor ins „Reich der Freiheit“ eröffnen kann, sowohl für und über die Freiheit der einzelnen Individuen und zugleich nur mit Hilfe der Einheit der Klasse: Die Freiheit jeder und jedes Einzelnen ist die Garantie für die Freiheit aller und die Erfüllung der Vereinigung der Proletarier aller Lände, die unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg. Jetzt haben wir Ziel und unverzichtbare Handlungsbasis zur Erreichung des Ziels in dialektischer Einheit und Kürze. Es sind die Lichter des Adventskranzes angezündet: Zweifel an allem ( erstes Licht ), strenge Analyse von Ideen und Wirklichkeit, auch in ihrem Verhältnis (zweites Licht), begründbare Erkenntnis über den Weg zu einer ersehnten menschlichen Gesellschaft (drittes Licht), Herstellung der Voraussetzung für alles weitere einschlägig sinnvolle Handeln (viertes Licht).
Reicht das aus?
Sicher nicht! Wir verharren immer noch im Reich der Ideen, in dem man sich im Streit eigentlich nur verirren kann. Es fehlt das materialistische Ziel des Handelns. Es fehlt sozusagen der Weihnachtsbaum, das leuchtende Ziel, das im Ergebnis real behangene, geschmückte, und mit dem Schmuck benutzbare Objekt aller Sehnsucht. Marx hat zum Beispiel weitergedacht in „Das Kapital“. Er bestimmt das entscheidende Handlungsziel und die unabdingbare Grundlage des Reiches der Freiheit, die Expropriation der Expropriateure. Sie wird das Werk sein einer Diktatur des Proletariats. Und genau daran ist die Klasse bis heute gescheitert. Sie hat wohl schon expropriiert und durch ihre Vertreter:innen auch zur Genüge simple Diktatur praktiziert. Nur was hatte die Klasse davon? Sie wurde damit nicht neuer Eigentümer und als Klasse Herrscher über die Verhältnisse. Die Klasse hatte kein Bewusstsein davon, Eigentümer und kollektiver „Diktator“ zu sein. Sie hatte sich bisher nichts wirklich und dauerhaft angeeignet, wie auch immer es versucht wurde. Ohne Eigentum aber gibt es keine Einigkeit. Das lehrt uns, wie gesagt, das Eigentum der bisher besitzenden Klassen. Eigentum setzt dem Streit der guten und schlechten Ideen die Grenzen. Der Streit geht letztendlich um die Sicherung des Eigentums und findet so immer wieder sein Finale in der Diktatur der Eigentümer. Aktuell bleibt der Kapitalismus deshalb allem erdachten oder auch real existierenden Sozialismus/Kommunismus überlegen, ideologisch, politisch und praktisch.
Der Weihnachtsbaum meiner Kindheit war gut behangen mit Süßigkeiten. So lange der Baum in der Stube stand, war der Baumbehang tabu. Danach wurden die Süßigkeiten gerecht – auch sozial gerecht – aufgeteilt; gleich viel für jedes Kind, etwas weniger für die Eltern. Davor achteten wir alle darauf, dass keine/r heimlich etwas für sich nahm. Der Baum und sein süßer Schmuck war kollektives Eigentum der Familie. Nur sein Schutz brachte (gleichgestellten) Vorteil für alle.
Also nochmal: De omnibus dubitandum! Haben Linke jemals die Expropriation der Expropriateure nachhaltig zu Ende gebracht? Haben Linke ausreichend analysiert, warum das nicht geklappt hat, warum sie darin allem bisherigen Eigentum und seiner Eigentümern unterlegen waren? Nein, sie haben offensichtlich nicht und konnten deshalb auch keine weiterführenden Erkenntnisse über eine nachhaltige, die Klasse selbst überzeugende politische Praxis erringen.
Der Geburt des „Messianischen“ war deshalb zwangsläufig sein Tod gefolgt. Eine Himmelfahrt irgendwelcher gottgleich gedachter Propheten gab es nicht. Sie sind nur, wie alle Menschen auch, gestorben. Linke selbst müssen die „Frohe Botschaft“ weiterschreiben und deren „Auferstehung“ organisieren; mit Zweifel, durch Analyse, in Einigkeit wegen des gemeinsamen Ziels, das nicht in Rechthaberei besteht, sonder ganz materialistisch in zumindest einem nachvollziehbaren Konzept einer neuen Art des Eigentums als auch seiner Sicherung; ein Eigentum als Erlösung, das nicht neuerliche Expropriation provoziert, sondern stabil den Nutzen aller mehrt, nicht weil wir uns das schwören, sondern weil es nichts anderes zulässt.

Zeitenwende

„Ein Gespenst geht um in Europa“. Vor 175 Jahren, am 21. Februar 1848 war es so weit. Ein von Karl Marx und Friedrich Engels verfasstes „Manifest der Kommunistischen Partei“ wird zum ersten Mal veröffentlicht. Mittlerweile steht dieses Manifest mit über 500 Millionen verkauften Exemplaren an der vierten Stelle der meistverkauften Bücher der Welt. Mit Fug und Recht kann man sagen, die 23 Seiten des Manifests leiteten eine Zeitenwende ein. Es war „… hohe Zeit, dass die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen …“ Das „Märchen vom Gespenst des Kommunismus“ wurde aus der Hölle einer „heiligen Hetzjagd“ auf die Erde geholt.
Mir fällt aber noch etwas anderes ein: Es war die Zeit der romantischen Märchen noch nicht vorbei. Wilhelm und Jacob Grimm veröffentlichten zum Beispiel noch immer und bis 1858 in loser Folge ihre „Kinder- und Hausmärchen.“ Was aber hat das mit dem Kommunistischen Manifest zu tun? Unmittelbar wohl nichts, holt man aber etwas weiter aus, so findet man doch etwas und noch dazu einige Aktualität.
Jacob und Wilhelm Grimm gelten als Begründer der Germanistik, also der Wissenschaft von der Deutschen Sprache und Literatur. Sie verfolgten damit nicht nur einen innerwissenschaftlichen Zweck, sondern auch einen sehr politischen. Beide gehörten zu den sogenannten „Göttinger Sieben“, Professoren der Universität, die sich 1837 gegen August Ernst I., König von Hannover, auflehnten, der die liberale Landesverfassung außer Kraft gesetzt hatte. Den Sieben bekam das zunächst nicht. Jacob und Wilhelm Grimm wurden sogar des Landes verwiesen und mussten nach Berlin flüchten. Sie widmeten ihre Arbeit seither und wie schon vorher der philologisch-germanistischen Begründung einer deutschen Nation. Sie suchten deren Wurzeln in verborgenen alten Zeiten der Deutschen Sprache, der Märchen und Sagen. Sie pflegten die deutsche Schriftsprache der Dichter und Denker als „einigendes Band der Nation“ und sicherten alles in einer „Geschichte der Deutschen Sprache“, in einer „Deutschen Grammatik“ und vor allem in einem „Deutschen Wörterbuch“. Letzteres wurde von beiden 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde es mehr als 100 Jahre später. Jacob Grimm war herausgehobener Abgeordneter 1848-1849 der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Kurz gesagt, er bastelte auch beflissen an einer Zeitenwende, nämlich der Ablösung der politischen Herrschaft der monarchischen Dynastien durch eine demokratisch legitimierte Herrschaft von durch das Volk der nationalen Gemeinschaft gewählten Vertretern. Und hier treffen sich die leiblichen Gebrüder Grimm mit Marx und Engels, den Brüdern im Geiste und der Aktion.
Letztere beschreiben im Manifest anschaulich die Herausbildung von Nationen in Verbindung mit den ökonomischen und politischen Ansprüchen der Bourgeoisie. Eines ist dabei besonders wichtig, die Nation dient dazu, alle ihre Angehörigen den Zielen der Bourgeois unterzuordnen: Wir finden im Manifest – und das gilt auch für die bürgerliche Nation, „… Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbes unterwarfen.“ Für die bürgerliche deutsche Nation war das der erste Zweck und der wichtigste Schritt in ihre Zeitenwende. Die Zeitenwende von Marx und Engels war historisch schon einen Schritt weiter. Sie kritisieren den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“. „Er proklamierte die deutsche Nation als die wahre Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, …“ Das gilt auch für Krieg und Faschismus. Jacob Grimms Wunsch, große Nationen dürften kleinere nicht erobern, blieb deshalb nur ein frommer. Erst mit der Übernahme der Macht durch die Klasse des Proletariats fällt dieser Zusammenhang. „Mit dem Gegensatz der Klassen im Inneren der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“
Das ist für mich die Stelle, von der aus es möglich wird, über einen linken Pazifismus nachzudenken und für ihn zu werben. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, bekommt im Klassenkampf seinen friedlichen Sinn.

(Geschrieben für Stadtblatt, März 2023 DIE LINKE Dresden)