Archiv des Autors: Peter Porsch

Zeitenwende

„Ein Gespenst geht um in Europa“. Vor 175 Jahren, am 21. Februar 1848 war es so weit. Ein von Karl Marx und Friedrich Engels verfasstes „Manifest der Kommunistischen Partei“ wird zum ersten Mal veröffentlicht. Mittlerweile steht dieses Manifest mit über 500 Millionen verkauften Exemplaren an der vierten Stelle der meistverkauften Bücher der Welt. Mit Fug und Recht kann man sagen, die 23 Seiten des Manifests leiteten eine Zeitenwende ein. Es war „… hohe Zeit, dass die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen …“ Das „Märchen vom Gespenst des Kommunismus“ wurde aus der Hölle einer „heiligen Hetzjagd“ auf die Erde geholt.
Mir fällt aber noch etwas anderes ein: Es war die Zeit der romantischen Märchen noch nicht vorbei. Wilhelm und Jacob Grimm veröffentlichten zum Beispiel noch immer und bis 1858 in loser Folge ihre „Kinder- und Hausmärchen.“ Was aber hat das mit dem Kommunistischen Manifest zu tun? Unmittelbar wohl nichts, holt man aber etwas weiter aus, so findet man doch etwas und noch dazu einige Aktualität.
Jacob und Wilhelm Grimm gelten als Begründer der Germanistik, also der Wissenschaft von der Deutschen Sprache und Literatur. Sie verfolgten damit nicht nur einen innerwissenschaftlichen Zweck, sondern auch einen sehr politischen. Beide gehörten zu den sogenannten „Göttinger Sieben“, Professoren der Universität, die sich 1837 gegen August Ernst I., König von Hannover, auflehnten, der die liberale Landesverfassung außer Kraft gesetzt hatte. Den Sieben bekam das zunächst nicht. Jacob und Wilhelm Grimm wurden sogar des Landes verwiesen und mussten nach Berlin flüchten. Sie widmeten ihre Arbeit seither und wie schon vorher der philologisch-germanistischen Begründung einer deutschen Nation. Sie suchten deren Wurzeln in verborgenen alten Zeiten der Deutschen Sprache, der Märchen und Sagen. Sie pflegten die deutsche Schriftsprache der Dichter und Denker als „einigendes Band der Nation“ und sicherten alles in einer „Geschichte der Deutschen Sprache“, in einer „Deutschen Grammatik“ und vor allem in einem „Deutschen Wörterbuch“. Letzteres wurde von beiden 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde es mehr als 100 Jahre später. Jacob Grimm war herausgehobener Abgeordneter 1848-1849 der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Kurz gesagt, er bastelte auch beflissen an einer Zeitenwende, nämlich der Ablösung der politischen Herrschaft der monarchischen Dynastien durch eine demokratisch legitimierte Herrschaft von durch das Volk der nationalen Gemeinschaft gewählten Vertretern. Und hier treffen sich die leiblichen Gebrüder Grimm mit Marx und Engels, den Brüdern im Geiste und der Aktion.
Letztere beschreiben im Manifest anschaulich die Herausbildung von Nationen in Verbindung mit den ökonomischen und politischen Ansprüchen der Bourgeoisie. Eines ist dabei besonders wichtig, die Nation dient dazu, alle ihre Angehörigen den Zielen der Bourgeois unterzuordnen: Wir finden im Manifest – und das gilt auch für die bürgerliche Nation, „… Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbes unterwarfen.“ Für die bürgerliche deutsche Nation war das der erste Zweck und der wichtigste Schritt in ihre Zeitenwende. Die Zeitenwende von Marx und Engels war historisch schon einen Schritt weiter. Sie kritisieren den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“. „Er proklamierte die deutsche Nation als die wahre Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, …“ Das gilt auch für Krieg und Faschismus. Jacob Grimms Wunsch, große Nationen dürften kleinere nicht erobern, blieb deshalb nur ein frommer. Erst mit der Übernahme der Macht durch die Klasse des Proletariats fällt dieser Zusammenhang. „Mit dem Gegensatz der Klassen im Inneren der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“
Das ist für mich die Stelle, von der aus es möglich wird, über einen linken Pazifismus nachzudenken und für ihn zu werben. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, bekommt im Klassenkampf seinen friedlichen Sinn.

(Geschrieben für Stadtblatt, März 2023 DIE LINKE Dresden)

Feindbild Russland – Ein Erfahrungsbericht (ndDIE WOCHE, 02. April 2022, S. 10)

Feindbild Russland
Zwischen Fakten und Vorurteilen: Wie sich Stereotype verfestigen. Ein Erfahrungsbericht
Peter Porsch
Als ich im Oktober 1944 in einem Vorort von Wien geboren wurde, tobte noch der Zweite Weltkrieg. Ich erblickte in einem düsteren Luftschutzkeller das Licht der Welt. Vom Krieg bekam ich unmittelbar nichts mit. Das Inferno hielt nicht mehr lange an. Wohl aber weiß ich aus eigener Anschauung von den Folgen eines Krieges: verzweifelte Menschen, verwüstete Städte, Verletzungen aller Art, Hunger, Flüchtlinge, Soldatengräber in Parks, Ruinen und Bombentrichter als Spielstätten …
Es sollte eigentlich nur mehr ein Feindbild geben: das Feindbild Krieg. Und sein positives Äquivalent, die Sehnsucht nach Frieden. Manche Feindbilder blieben trotzdem, manche entstanden neu. Die siegreichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich verloren zumindest in Österreich fast übergangslos ihren feindlichen Nimbus; ihr Bild verwandelte sich in ein freundlich-erwartungsvolles von Befreiern. Die Sowjetunion dagegen blieb im Verein mit dem Feindbild Kommunismus, meist vereinfacht auf Russland reduziert, in der öffentlichen Meinung stark negativ bewertet. Alles, was hierzu der Nationalsozialismus an Vorurteilen aufgegriffen und hinzugefügt hatte, wirkte ziemlich ungebrochen weiter. Der Atombombenabwurf der USA in Hiroshima und Nagasaki wurde zwar deutlich kritisiert. Der Korea-Krieg gebar Losungen wie »Ami go home«. Die Kuba-Krise brachte die Angst vor einem Atomkrieg in Erinnerung. Der Vietnam-Krieg hatte eine Antikriegsbewegung zur Folge, die in der westeuropäischen Friedensbewegung und dem Protest gegen den so genannten Nato-Doppelbeschluss zur politischen Macht wurde.
Das alles lebte weiter, verlor jedoch immer wieder seine politische Kraft. Ein Übriges tat brutale russische Militärmacht in Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968. Die Schlussakte von Helsinki 1975 darf als gelungener Ausgleich vernünftiger Politik auf allen Seiten mit friedlicher Perspektive allerdings auch nicht vergessen werden.
Alle aus dem Faschismus verbliebenen und von diesem aus früheren Zeiten übernommenen und zum Feindbild gegen Russ*innen und Russland gewordenen Vorurteile bekamen in der DDR immerhin eine Delle. Man kannte zu viele Russ*innen und Russland aus den persönlichen Begegnungen. Das wirkt heute noch bei Älteren nach, lässt aber dennoch zu, in einer Krisensituation ein Feindbild zu reaktivieren, das in der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung deutlich und mehrheitlich Partei ergreifen lässt gegen Russland. Die in der DDR übliche Bezeichnung Freunde für Sowjetbürger*innen (meist verallgemeinernd als Russen verstanden) und ihre Armee hatte immer auch einen ironisch-distanzierten Unterton.
Eine stereotype Beurteilung von Völkern und ihrem Verhalten ist heute kaum noch konfliktfrei möglich. Verschwunden ist sie aber auch nicht. Wer es nicht glaubt, sei jetzt auf die vielfältigen Diskriminierungen von Russ*innen in Sport, Kunst und Kultur, in Schulen und im Alltag erinnert. Vielleicht, ja hoffentlich bleiben das Einzelfälle. Öffentlicher Protest gegen den Krieg in der Ukraine wird aber in den allermeisten Fällen zur Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland. Natürlich hat das seine legale Ursache im völkerrechtswidrigen Vorgehen Putins, aber auch das Feindbild funktioniert. Zum Beispiel in der Zurückdrängung berechtigter Kritik an den Vorgehensweisen der USA und Westeuropas. Die Kritik am Krieg in Jugoslawien hatte noch mal Massencharakter. »Free Assange« hat nur geringes Echo. Guantanamo ist fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Man weiß aber sehr genau um Nawalny und die innerrussischen Unterdrückungsmaßnahmen.
Das Feindbild Russland hat eine unheilvolle Geschichte. Und seine Eigenheiten. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« vom 4. August 1914 anlässlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD war unter anderem zu lesen: »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren.« Sicher entsprachen dieser Begründung Tatsachen. Sie führten ja auch zu Aufständen und schließlich zur Oktoberrevolution. Wenn sich die Charakterisierung der Zarenherrschaft zum Stereotyp eines Feindbildes verfestigt, wirkt es auch ungeprüft und ist auf alle folgenden autokratischen Herrschaftskonstellationen übertragbar. Lenin, Stalin, Breschnew, nun auch Putin werden nach diesem Modell undifferenziert dem gleichen Framing unterworfen.
Dem folgt die Aufnahme besonders rücksichtsloser russischer Kriegsführung ins Feindbild. Ein frühes Beispiel findet sich in dem 1914/15 erschienenen Jugendbuch »Der Kampf in Feindesland«. Das erste Kapitel trägt die Überschrift »Die russischen Hunnen«. Solche überfallen angeblich seit jeher friedliche Bauern. Russen und Hunnen treten in »Horden« auf und sind fremdrassig: »Jetzt konnte man schon die kleinen zottigen Pferde erkennen. Und nach einer kurzen Spanne auch die braunen Gestalten, die auf den Tieren wie festgegossen saßen. Die Gesichter waren von einer abschreckenden Hässlichkeit. Neben den platten Nasen blickten kleine, schwarze, stechende Schlitzaugen, die tief im Kopfe saßen … Entsetzen und Schrecken gingen vor diesen Horden her.«
Solche Bilder sind in identischerweise heute nicht mehr möglich. Die Bezeichnung Horden für die Russen im aktuellen Krieg fiel aber schon mehrfach. Das korrespondiert mit der ebenfalls stereotypen Annahme von der fremden russischen Kultur. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« von 1914 heißt es, »die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes (sei) sicherzustellen«. Im Wiener Gymnasium wurde ich Ende der 50er Jahre im Geografieunterricht zum »Kulturgefälle von West nach Ost« belehrt.
Die Darstellung Russlands war schon lange auch die eines armen unattraktiven Landes. Davon profitierte die Systemauseinandersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sozialistische Länder waren im Stereotyp zurückgeblieben, ohne gesellschaftlichen Wohlstand, geprägt von Versorgungslücken und Sehnsucht nach weniger alltäglicher Lebensmühe. Wiederum keine Lüge, aber in der Verfestigung im Feindbild hüben wie drüben wirksam. »Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehn wir zu ihr«, war die bekannte, aktivierende Losung 1989 in der DDR.
Der »deutschen Jugend« wurde 1914 das Schreckgespenst russischen Elends in »Der Kampf in Feindesland« deutlich vor Augen geführt: »Zwischen den kahlen Pappeln der Landstraße tauchte aus dem Nebel und Regen ein russisches Dorf auf. Schiefe kleine Lehmhütten, mit winzigen Fenstern, hinter denen keine Blume das hässliche Bild freundlicher gestaltete. Große Pfützen, schlammige Wege, verkrüppelte Birken, hier und da ein scheußlicher, bellender Köter und endlich auch ein paar schmutzig gekleidete und ebenso aussehende Menschen – so monoton zeigte sich ein russisches Dorf wie das andere.«
Gerade russische Dörfer werden heute noch in einer für Westeuropäer*innen ungewohnten, oft sympathischen Einfachheit, aber auch behäbiger Vorgestrigkeit gezeigt. Das Wohlstandsgefälle gegenüber dem Westen gehört zum Russland-Bild. Man stellt unbestreitbare Tatsachen fest und verfestigt zugleich das Stereotyp. Russland habe unter Putin »keinen wirklichen Modernisierungsschritt getan, im Gegenteil: Die eigene Wirtschaft ist global kaum wettbewerbsfähig, sie beruht auf weitgehend veralteter Technologie.« (Reiner Oschmann im nd-Artikel »Rendezvous mit Waterloo«, zitiert nach »Neue Zürcher Zeitung«). Man kann solchen Sätzen fehlenden Wahrheitsgehalt nicht vorwerfen. Dass sie aber geeignet sein können, zu Überheblichkeit auch im militärischen Umgang mit Russland zu verleiten, sollte man nicht übersehen.
Putin ist Gefangener eigener Vereinfachungen geworden. Er meinte wohl, der Weg seiner Soldaten nach Kiew sei so einfach wie 1968 der Weg nach Prag. Aber schon in Prag deutete sich wieder an, was die Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zum Sieg führte. Die Rote Armee siegte mit starker Unterstützung von Partisan*innen, Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft im Volk. In Prag traten unbewaffnete Menschen Panzern in den Weg. 1989 wollten die Völker den erstarrten Sozialismus nicht mehr und stellten sich ihm weitgehend gewaltfrei entgegen. »Alle Völker dieser Erde sind älter, stärker, wichtiger als ihre Dynastien und Herrschaftssysteme«, schrieb Hubert Feichtelbauer 1988 in dem Band »Feindbilder«. Das gilt für jede historische Zielsetzung der Völker, nicht nur progressive. In der Ukraine tritt das Staatsvolk Putins Ambitionen (mit Unterstützung starker »Freunde«) entgegen.
Freilich passiert das in einer geopolitischen Konkurrenzsituation. Es ist tatsächlich Krieg, wenn auch ein asymmetrischer. Es geht deshalb derzeit um Sieg oder Niederlage einer Seite. Krieg löst nach allen historischen Erfahrungen jedoch keine Probleme, sondern schafft neue, wie lange es auch dauern mag, bis diese zum Ausbruch kommen. Mein Feindbild richtet sich also gegen den Krieg und seine Feldherren. Was man Russland mit Recht vorwirft, gehört zum Krieg. Die Wahrnehmung als russische Besonderheit ist dem Feindbild geschuldet. Die Welt schlägt sich mit Problemen herum, die aus der Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Veränderung dieser Aufteilung nach 1989 resultieren. Da bleibt Parteinahme für die eine oder andere Seite im Grunde historisch wenig sinnvoll, weil auch ein Sieg nicht nachhaltig wirkt.
Ich bin bei meinem Anfang. Die emotionalen Reaktionen auf den Krieg sind im Augenblick notwendig und verständlich. Unter imperialen kapitalistischen Konkurrenzbedingungen scheint nachhaltiger Frieden allerdings nicht erreichbar. Schon viele kluge Menschen haben festgestellt, der Kapitalismus trage den Krieg in sich. Ich bleibe daher auf der allein zukunftsträchtigen Seite, auf der Seite des Friedens, und fordere als Linker, den Kampf für Frieden immer mit dem Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaftsperspektive zu verbinden.
Bundesausgabe vom Samstag, 2. April 2022, Seite 10 (5 Views)

Vom linken Sprechen mit der Klasse

Im Grunde ist es eine Binsenweisheit, dass die Partei DIE LINKE für jene da sein sollte, die sich am unteren Ende der sozialen Hierarchien und der Einkommensstufen befinden. Ich glaube nicht, dass es für die Anerkennung einer solchen Selbstverständlichkeit große Auseinandersetzungen in der Partei braucht. Dennoch sollten wir immer wieder kontrollieren, ob wir diesem Anspruch auch gerecht werden, programmatisch und praktisch in unserem politischen Handeln. Dazu braucht es Kommunikation, Kommunikation mit jenen Schichten der Bevölkerung, für die wir uns erfolgreich und bei den Betroffenen auch verständlich einsetzen wollen. Freilich ist das gar nicht so einfach, wie man vielleicht denkt. Es genügt nicht unseren Anspruch zu formulieren und ihn ausführlich in geschliffener Sprache zu begründen. Wir müssen auch mit der Sprache derer umgehen können, die wir vertreten wollen. Das heißt nicht zu versuchen, so zu sprechen wie diese, sondern wir müssen lernen ihnen zuzuhören und zu verstehen, was sie sagen und vor allem wie sie es sagen.
Seit über 50 Jahren und wahrscheinlich auch schon länger ist dies in den Schriften zur Arbeiterbildung bekannt. Die hier gemeinten Menschen reden über ihre soziale Lage nicht in komplizierten, von detaillierter Analyse geprägten Texten, sondern – so nennt es Oskar Negt 1968 in seinem Buch Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen . Zur Theorie der Arbeiterbildung – in einer Sprache „impliziter Bedeutungen“. Dabei fassen Menschen ihre sozialen Erfahrungen in einfachen Äußerungen zusammen, denen aber ihre gesamte Erfahrungswelt zugrunde liegt. Sprechen sie zum Beispiel über Arbeitslosigkeit, so zergliedern sie ihre Erfahrung nicht in Ursache, Auswirkung und Auswegmöglichkeiten, sondern allein mit diesem Wort wird alles ausgesprochen, schwingt ihre gesamte Betroffenheit von Arbeitslosigkeit als Erleben, Angst, Widerstand und Bewältigung mit, ohne dies im Einzelnen auszubreiten. Ihre erlebte Stellung in der Gesellschaft bündelt sich oft in Aussagen wie: „Nützt ja alles nichts“. „Du weißt schon“. „Und? Wer wird es wieder bezahlen?“. „Die sind doch alle gleich“. „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“. Usw- usw. Solche Sätze greifen auf die Annahme gemeinsamer Erfahrung genau so zurück wie auf die Annahme daraus resultierender Solidarität. Es ist zugleich resignativ und aggressiv, hilflos und kampfbereit. Es ist getragen von Klasseninstinkt, geboren in Klassenerfahrung, nicht aber schon von Klassenbewusstsein. So sprechen die Menschen nicht als analysierende Vertreter*innen der Klasse, sondern als Betroffene der Klassengesellschaft. Fragt man nach, bekommt man deshalb höchst selten systematische Durchdringung der Lebenssituation und entsprechende Schlussfolgerungen. Es werden vielmehr Geschichten „aus dem Leben“ erzählt. Auf die kommt es aber an. Sie erzählen von der Klassenlage. In diesen Geschichten bekommen Menschen ihre Identität als Mitglieder einer Klasse. Die Klasse ist aber bereits eine höhere Abstraktion. Zuerst ist es das konkrete Leben, das prägt, das konkrete Leben von Kassierer*innen, Lagerarbeiter*innen, Migrant*innen, Juden und Jüdinnen, und vielen anderen mehr.
Die AfD nützt das geschickt. Sie erzählt die Geschichten undifferenziert weiter. Sie verwandelt dabei aggressive Hilflosigkeit in aggressive Frechheit. Freilich auch nicht mehr, erzielt dabei jedoch offensichtlich den Effekt, als welche wahrgenommen zu werden, die sich was trauen. Dass sie deshalb noch nichts können, ist nicht so wichtig. Am besten wirkt dieses analytische Vakuum verbunden mit pseudokämpferischem Anspruch, wenn man sich bis zu den Grenzen der Sprache des Faschismus vorwagt oder sie fallweise auch überschreitet. Das wirkt, ist freilich brandgefährlich und politischer Betrug an den Menschen, für die zu sprechen man vorgibt.

Einen anderen Betrug für das gleiche soziale Umfeld findet man bei der FDP: „Bei uns kann jeder alles werden, egal, wo er herkommt.“ Man könnte das ja als Vorgriff auf sozialistische Ideen der Chancengleichheit verstehen. Es ist aber etwas ganz anderes. Gerade bei Erstwähler*innen, die noch Träume vom künftigen Leben haben, bedient es diese Träume. Wie im Groschenroman eröffnet es eine angeblich realisierbare Wunschwelt des eigenen Willens. Dennoch ist es nichts anderes als eine Reproduktion der negativen Seiten jener „impliziten Bedeutungen“, in denen die Lebenserfahrungen zusammengefasst sind. Der Ausweg ähnelt dem Traum vom Lottogewinn, den man erreichen kann, wenn man nur oft genug spielt.
Unsere linke Aufgabe ist eine entgegengesetzte. Wir sollten nicht schlau und selbstgerecht und selbstverliebt versuchen, wie die einfachen Arbeiter*innen zu sprechen. Uns muss es vielmehr gelingen, aus ihren Geschichten, verständliche politische Programme und Projekte zu machen. Das braucht eben zuallererst genaues Zuhören. Unsere linke Aufgabe ist es, erst danach im neugierigen und geduldigen Gespräch, das sich in Teilhabe verwandelt, die Abstraktionsebene der Klasse so darzustellen, dass daraus auch das Gefühl der Betroffenheit entsteht, dass die Zugehörigkeit zur Klasse nicht vom eigenen Erleben getrennt wird, sondern vielmehr aus dem eigenen Erleben verständlich wird. So verhelfen wir wenig reflektierten Erlebniskomplexen zu einem politisch wirksamen Klassenbewusstsein.

Lernen wir das zu erlernen! Lernen wir Arbeiterbildung, nicht Arbeiterbelehrung!

12. Oktober 2021