Für Christinnen und Christen ist der Advent eine hoffnungsvolle Periode des Wartens auf die Geburt des Erlösers. Sie singen, „tauet Himmel den gerechten, Wolken regnet ihn herab“, und gewinnen dabei die Sicherheit der Erfüllung ihres Flehens. „Gabriel flog schnell hernieder, kehrte mit der Antwort wieder, sieh ich bin die Magd des Herrn, was er will erfüll ich gern.“ Jetzt beginnt ein neues Kirchenjahr und ein neuer Versuch, übers Jahr über den Tod des Erlöser hinauszukommen. Seiner Geburt folgen sein Tod und diesem die Auferstehung. Zwar verlässt er die zu erlösende Welt bald wieder gen Himmel, aber er hinterlässt den Glauben an sich und seine historische Mission, worin immer wieder die Kraft auf einen Neuanfang liegt. Christen und Christinnen geht es gut. Sogar ihr Tod wird schließlich im Glauben überwunden.
Und die anderen? Zum Beispiel wir Linken? „Uns aus dem Elend zu erlösen, das müssen wir schon selber tun,“ wird von uns gesungen; kein Vertrauen in einen, der das für uns macht, nicht in Gott und nicht in Kaiser und Tribun. Eine Menge aber an Selbstvertrauen, schon seit geraumer Zeit, mit unterschiedlichem Erfolg, am Ende aber nur mit Niederlagen. Fehlt uns ein Gott oder liegt es an uns selbst? Es liegt an uns selbst. Eine niederschmetternde Erkenntnis, die uns auch unsere Vordenker:innen hinterlassen haben. Wir sind unsere eigenen Messiasse. Nur wir können uns unseren eigenen Advent schaffen. Sein glückliches Ende verschwand jedoch immer wieder in der Enttäuschung. Freilich auch die gebiert unsere eigene Verantwortung.
Der Zeugungsakt ist der Streit. Kein Streit um die Wahrheit, kein Streit um den richtigen Weg zu Erlösung, nur ein Streit um das Recht-haben. Was dem Streit Richtung und Ergebnis geben könnte, nämlich kluge Worte von „Klassiker“ genannten Menschen, werden selbst zum Gegenstand meist unversöhnlichen Streits um ihr richtiges Verständnis. Deshalb bleibt die Geschichte der Linken eine Geschichte der Spaltungen, sprich: der einfachsten, aber erfolglosesten Lösungen von Dissens. Einigkeit von Linken war nur selten und immer nur für kurze Zeit vor der nächsten Spaltung im Diskurs erreichte Einigkeit. Zeitweilig war sie erzwungene. Ach ja, erzwungene Einigkeit hielt zwar länger, endete aber in noch größeren Misserfolgen.
Was tun? Jetzt die Frage gestellt, hilft auch Lenin nicht mehr. Langsam kommen Zweifel auf, ob Linke wirklich die Richtigen sind, um das in der Geschichte zu bewirken, was sie sich selbst als Aufgabe vorschreiben. Wohlgemerkt, es geht um Die „Linken“, nicht um eine Partei „Die Linke“ oder wie auch immer sie heißen mag, die aber den Anspruch vertritt, Menschen zu befähigen, ihre Geschichte selbst zu machen. Letzteres wird aber wegen der real existierenden und real existierend gewesenen Linken immer mehr zur Schimäre.
Die Konservativen und Konterrevolutionäre von Rechts bis in unsere Reihen haben uns den Fetisch Eigentum und Geld zum Erhalt ihrer Einheit voraus. Selbst als Linke vorgaben, (Volks-)Eigentum geschaffen zu haben, wurden es von seinen Sachwaltern sofort aufgegeben, als andere danach griffen, und niemand war da, um es zu verteidigen. Wir waren wieder blank, nur mehr ausgestattet mit unseren Ideen – aber genau in denen lauerte immer die Spaltung. Die Theorie wurde zerstörerische Gewalt, als sie uns zwar ergriff, aber keine nachhaltige, ständig neu zu überprüfende, gegen Angriffe resistente Praxis schuf.
Ihre Sicherheit war labile, undemokratische Gewalt, die auf Überzeugung der Massen pfiff. „Genossen, mit der Macht lassen wir nicht spielen“, sagten jene, die nicht wussten, was zu machen wäre, als man ihnen die Macht nahm.
Gibt es dennoch einen linken Advent?
Die Antwort ist „Nein“, sagt die mittlerweile Jahrhunderte überdauernde Erfahrung. Die Antwort muss „Ja“ sein, fordert eine vielleicht schon Jahrtausende überlebende Sehnsucht. Marx und Engels, die originären Träger der dialektischen Einheit von linker Sehnsucht, Vernunft und auch schon einiger einschlägiger Erfahrung müssen nicht in jedem Punkt und Komma zu den ersehnten und akzeptierten Erlösern werden, wohl aber im „messianischen“ Kern ihrer Aussagen. Diese sind nicht göttlichen Ursprungs (der größte Vorteil, weil sie sonst nur von Menschen erdacht wären, nicht jedoch erkannt), sie fußen vielmehr in rationaler Analyse des „So-Seins“ gesellschaftlicher Welt sowie der Extrapolation ihrer möglichen menschlichen Zukunft. Ihr „Manifest der Kommunistischen Partei“ war zunächst eine analytische Abrechnung mit allen zeitgenössischen Spielarten von „Sozialismus“. Es kam ein bunter Reigen zusammen, in dem nicht Harmonie der Bewegung angesagt war, sondern jede Menge Dissonanzen und Fußtritte. Es ging um den „kleinbürgerlichen Sozialismus“, um den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“, den „konservativen oder Bourgeoissozialismus“ und schließlich den „kritisch-utopistischen Sozialismus oder Kommunismus“. Sie begründeten sich alle in enttäuschten oder erdachten Klasseninteressen, in (frommen) Wünschen und in eingebildetem Sendungsbewusstsein. Vor der gesellschaftlichen Realität konnten sie als Zukunftskonzepte nicht standhalten.
Wir wissen das alles seit langem, wir haben das alles schon oft gelesen, wir kennen der Weisheit letzten Schluss: Es sind Klassen in der Gesellschaft, die im Kampf Geschichte machen, und es ist die Arbeiterklasse, die das Tor ins „Reich der Freiheit“ eröffnen kann, sowohl für und über die Freiheit der einzelnen Individuen und zugleich nur mit Hilfe der Einheit der Klasse: Die Freiheit jeder und jedes Einzelnen ist die Garantie für die Freiheit aller und die Erfüllung der Vereinigung der Proletarier aller Lände, die unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg. Jetzt haben wir Ziel und unverzichtbare Handlungsbasis zur Erreichung des Ziels in dialektischer Einheit und Kürze. Es sind die Lichter des Adventskranzes angezündet: Zweifel an allem ( erstes Licht ), strenge Analyse von Ideen und Wirklichkeit, auch in ihrem Verhältnis (zweites Licht), begründbare Erkenntnis über den Weg zu einer ersehnten menschlichen Gesellschaft (drittes Licht), Herstellung der Voraussetzung für alles weitere einschlägig sinnvolle Handeln (viertes Licht).
Reicht das aus?
Sicher nicht! Wir verharren immer noch im Reich der Ideen, in dem man sich im Streit eigentlich nur verirren kann. Es fehlt das materialistische Ziel des Handelns. Es fehlt sozusagen der Weihnachtsbaum, das leuchtende Ziel, das im Ergebnis real behangene, geschmückte, und mit dem Schmuck benutzbare Objekt aller Sehnsucht. Marx hat zum Beispiel weitergedacht in „Das Kapital“. Er bestimmt das entscheidende Handlungsziel und die unabdingbare Grundlage des Reiches der Freiheit, die Expropriation der Expropriateure. Sie wird das Werk sein einer Diktatur des Proletariats. Und genau daran ist die Klasse bis heute gescheitert. Sie hat wohl schon expropriiert und durch ihre Vertreter:innen auch zur Genüge simple Diktatur praktiziert. Nur was hatte die Klasse davon? Sie wurde damit nicht neuer Eigentümer und als Klasse Herrscher über die Verhältnisse. Die Klasse hatte kein Bewusstsein davon, Eigentümer und kollektiver „Diktator“ zu sein. Sie hatte sich bisher nichts wirklich und dauerhaft angeeignet, wie auch immer es versucht wurde. Ohne Eigentum aber gibt es keine Einigkeit. Das lehrt uns, wie gesagt, das Eigentum der bisher besitzenden Klassen. Eigentum setzt dem Streit der guten und schlechten Ideen die Grenzen. Der Streit geht letztendlich um die Sicherung des Eigentums und findet so immer wieder sein Finale in der Diktatur der Eigentümer. Aktuell bleibt der Kapitalismus deshalb allem erdachten oder auch real existierenden Sozialismus/Kommunismus überlegen, ideologisch, politisch und praktisch.
Der Weihnachtsbaum meiner Kindheit war gut behangen mit Süßigkeiten. So lange der Baum in der Stube stand, war der Baumbehang tabu. Danach wurden die Süßigkeiten gerecht – auch sozial gerecht – aufgeteilt; gleich viel für jedes Kind, etwas weniger für die Eltern. Davor achteten wir alle darauf, dass keine/r heimlich etwas für sich nahm. Der Baum und sein süßer Schmuck war kollektives Eigentum der Familie. Nur sein Schutz brachte (gleichgestellten) Vorteil für alle.
Also nochmal: De omnibus dubitandum! Haben Linke jemals die Expropriation der Expropriateure nachhaltig zu Ende gebracht? Haben Linke ausreichend analysiert, warum das nicht geklappt hat, warum sie darin allem bisherigen Eigentum und seiner Eigentümern unterlegen waren? Nein, sie haben offensichtlich nicht und konnten deshalb auch keine weiterführenden Erkenntnisse über eine nachhaltige, die Klasse selbst überzeugende politische Praxis erringen.
Der Geburt des „Messianischen“ war deshalb zwangsläufig sein Tod gefolgt. Eine Himmelfahrt irgendwelcher gottgleich gedachter Propheten gab es nicht. Sie sind nur, wie alle Menschen auch, gestorben. Linke selbst müssen die „Frohe Botschaft“ weiterschreiben und deren „Auferstehung“ organisieren; mit Zweifel, durch Analyse, in Einigkeit wegen des gemeinsamen Ziels, das nicht in Rechthaberei besteht, sonder ganz materialistisch in zumindest einem nachvollziehbaren Konzept einer neuen Art des Eigentums als auch seiner Sicherung; ein Eigentum als Erlösung, das nicht neuerliche Expropriation provoziert, sondern stabil den Nutzen aller mehrt, nicht weil wir uns das schwören, sondern weil es nichts anderes zulässt.
Zeitenwende
„Ein Gespenst geht um in Europa“. Vor 175 Jahren, am 21. Februar 1848 war es so weit. Ein von Karl Marx und Friedrich Engels verfasstes „Manifest der Kommunistischen Partei“ wird zum ersten Mal veröffentlicht. Mittlerweile steht dieses Manifest mit über 500 Millionen verkauften Exemplaren an der vierten Stelle der meistverkauften Bücher der Welt. Mit Fug und Recht kann man sagen, die 23 Seiten des Manifests leiteten eine Zeitenwende ein. Es war „… hohe Zeit, dass die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen …“ Das „Märchen vom Gespenst des Kommunismus“ wurde aus der Hölle einer „heiligen Hetzjagd“ auf die Erde geholt.
Mir fällt aber noch etwas anderes ein: Es war die Zeit der romantischen Märchen noch nicht vorbei. Wilhelm und Jacob Grimm veröffentlichten zum Beispiel noch immer und bis 1858 in loser Folge ihre „Kinder- und Hausmärchen.“ Was aber hat das mit dem Kommunistischen Manifest zu tun? Unmittelbar wohl nichts, holt man aber etwas weiter aus, so findet man doch etwas und noch dazu einige Aktualität.
Jacob und Wilhelm Grimm gelten als Begründer der Germanistik, also der Wissenschaft von der Deutschen Sprache und Literatur. Sie verfolgten damit nicht nur einen innerwissenschaftlichen Zweck, sondern auch einen sehr politischen. Beide gehörten zu den sogenannten „Göttinger Sieben“, Professoren der Universität, die sich 1837 gegen August Ernst I., König von Hannover, auflehnten, der die liberale Landesverfassung außer Kraft gesetzt hatte. Den Sieben bekam das zunächst nicht. Jacob und Wilhelm Grimm wurden sogar des Landes verwiesen und mussten nach Berlin flüchten. Sie widmeten ihre Arbeit seither und wie schon vorher der philologisch-germanistischen Begründung einer deutschen Nation. Sie suchten deren Wurzeln in verborgenen alten Zeiten der Deutschen Sprache, der Märchen und Sagen. Sie pflegten die deutsche Schriftsprache der Dichter und Denker als „einigendes Band der Nation“ und sicherten alles in einer „Geschichte der Deutschen Sprache“, in einer „Deutschen Grammatik“ und vor allem in einem „Deutschen Wörterbuch“. Letzteres wurde von beiden 1838 begonnen. Fertiggestellt wurde es mehr als 100 Jahre später. Jacob Grimm war herausgehobener Abgeordneter 1848-1849 der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Kurz gesagt, er bastelte auch beflissen an einer Zeitenwende, nämlich der Ablösung der politischen Herrschaft der monarchischen Dynastien durch eine demokratisch legitimierte Herrschaft von durch das Volk der nationalen Gemeinschaft gewählten Vertretern. Und hier treffen sich die leiblichen Gebrüder Grimm mit Marx und Engels, den Brüdern im Geiste und der Aktion.
Letztere beschreiben im Manifest anschaulich die Herausbildung von Nationen in Verbindung mit den ökonomischen und politischen Ansprüchen der Bourgeoisie. Eines ist dabei besonders wichtig, die Nation dient dazu, alle ihre Angehörigen den Zielen der Bourgeois unterzuordnen: Wir finden im Manifest – und das gilt auch für die bürgerliche Nation, „… Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbes unterwarfen.“ Für die bürgerliche deutsche Nation war das der erste Zweck und der wichtigste Schritt in ihre Zeitenwende. Die Zeitenwende von Marx und Engels war historisch schon einen Schritt weiter. Sie kritisieren den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“. „Er proklamierte die deutsche Nation als die wahre Nation und den deutschen Spießbürger als den Normalmenschen. Er gab jeder Niedertracht desselben einen verborgenen, höheren, sozialistischen Sinn, …“ Das gilt auch für Krieg und Faschismus. Jacob Grimms Wunsch, große Nationen dürften kleinere nicht erobern, blieb deshalb nur ein frommer. Erst mit der Übernahme der Macht durch die Klasse des Proletariats fällt dieser Zusammenhang. „Mit dem Gegensatz der Klassen im Inneren der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander.“
Das ist für mich die Stelle, von der aus es möglich wird, über einen linken Pazifismus nachzudenken und für ihn zu werben. „Proletarier aller Länder vereinigt euch“, bekommt im Klassenkampf seinen friedlichen Sinn.
(Geschrieben für Stadtblatt, März 2023 DIE LINKE Dresden)
Feindbild Russland – Ein Erfahrungsbericht (ndDIE WOCHE, 02. April 2022, S. 10)
Feindbild Russland
Zwischen Fakten und Vorurteilen: Wie sich Stereotype verfestigen. Ein Erfahrungsbericht
Peter Porsch
Als ich im Oktober 1944 in einem Vorort von Wien geboren wurde, tobte noch der Zweite Weltkrieg. Ich erblickte in einem düsteren Luftschutzkeller das Licht der Welt. Vom Krieg bekam ich unmittelbar nichts mit. Das Inferno hielt nicht mehr lange an. Wohl aber weiß ich aus eigener Anschauung von den Folgen eines Krieges: verzweifelte Menschen, verwüstete Städte, Verletzungen aller Art, Hunger, Flüchtlinge, Soldatengräber in Parks, Ruinen und Bombentrichter als Spielstätten …
Es sollte eigentlich nur mehr ein Feindbild geben: das Feindbild Krieg. Und sein positives Äquivalent, die Sehnsucht nach Frieden. Manche Feindbilder blieben trotzdem, manche entstanden neu. Die siegreichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich verloren zumindest in Österreich fast übergangslos ihren feindlichen Nimbus; ihr Bild verwandelte sich in ein freundlich-erwartungsvolles von Befreiern. Die Sowjetunion dagegen blieb im Verein mit dem Feindbild Kommunismus, meist vereinfacht auf Russland reduziert, in der öffentlichen Meinung stark negativ bewertet. Alles, was hierzu der Nationalsozialismus an Vorurteilen aufgegriffen und hinzugefügt hatte, wirkte ziemlich ungebrochen weiter. Der Atombombenabwurf der USA in Hiroshima und Nagasaki wurde zwar deutlich kritisiert. Der Korea-Krieg gebar Losungen wie »Ami go home«. Die Kuba-Krise brachte die Angst vor einem Atomkrieg in Erinnerung. Der Vietnam-Krieg hatte eine Antikriegsbewegung zur Folge, die in der westeuropäischen Friedensbewegung und dem Protest gegen den so genannten Nato-Doppelbeschluss zur politischen Macht wurde.
Das alles lebte weiter, verlor jedoch immer wieder seine politische Kraft. Ein Übriges tat brutale russische Militärmacht in Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968. Die Schlussakte von Helsinki 1975 darf als gelungener Ausgleich vernünftiger Politik auf allen Seiten mit friedlicher Perspektive allerdings auch nicht vergessen werden.
Alle aus dem Faschismus verbliebenen und von diesem aus früheren Zeiten übernommenen und zum Feindbild gegen Russ*innen und Russland gewordenen Vorurteile bekamen in der DDR immerhin eine Delle. Man kannte zu viele Russ*innen und Russland aus den persönlichen Begegnungen. Das wirkt heute noch bei Älteren nach, lässt aber dennoch zu, in einer Krisensituation ein Feindbild zu reaktivieren, das in der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung deutlich und mehrheitlich Partei ergreifen lässt gegen Russland. Die in der DDR übliche Bezeichnung Freunde für Sowjetbürger*innen (meist verallgemeinernd als Russen verstanden) und ihre Armee hatte immer auch einen ironisch-distanzierten Unterton.
Eine stereotype Beurteilung von Völkern und ihrem Verhalten ist heute kaum noch konfliktfrei möglich. Verschwunden ist sie aber auch nicht. Wer es nicht glaubt, sei jetzt auf die vielfältigen Diskriminierungen von Russ*innen in Sport, Kunst und Kultur, in Schulen und im Alltag erinnert. Vielleicht, ja hoffentlich bleiben das Einzelfälle. Öffentlicher Protest gegen den Krieg in der Ukraine wird aber in den allermeisten Fällen zur Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland. Natürlich hat das seine legale Ursache im völkerrechtswidrigen Vorgehen Putins, aber auch das Feindbild funktioniert. Zum Beispiel in der Zurückdrängung berechtigter Kritik an den Vorgehensweisen der USA und Westeuropas. Die Kritik am Krieg in Jugoslawien hatte noch mal Massencharakter. »Free Assange« hat nur geringes Echo. Guantanamo ist fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Man weiß aber sehr genau um Nawalny und die innerrussischen Unterdrückungsmaßnahmen.
Das Feindbild Russland hat eine unheilvolle Geschichte. Und seine Eigenheiten. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« vom 4. August 1914 anlässlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD war unter anderem zu lesen: »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren.« Sicher entsprachen dieser Begründung Tatsachen. Sie führten ja auch zu Aufständen und schließlich zur Oktoberrevolution. Wenn sich die Charakterisierung der Zarenherrschaft zum Stereotyp eines Feindbildes verfestigt, wirkt es auch ungeprüft und ist auf alle folgenden autokratischen Herrschaftskonstellationen übertragbar. Lenin, Stalin, Breschnew, nun auch Putin werden nach diesem Modell undifferenziert dem gleichen Framing unterworfen.
Dem folgt die Aufnahme besonders rücksichtsloser russischer Kriegsführung ins Feindbild. Ein frühes Beispiel findet sich in dem 1914/15 erschienenen Jugendbuch »Der Kampf in Feindesland«. Das erste Kapitel trägt die Überschrift »Die russischen Hunnen«. Solche überfallen angeblich seit jeher friedliche Bauern. Russen und Hunnen treten in »Horden« auf und sind fremdrassig: »Jetzt konnte man schon die kleinen zottigen Pferde erkennen. Und nach einer kurzen Spanne auch die braunen Gestalten, die auf den Tieren wie festgegossen saßen. Die Gesichter waren von einer abschreckenden Hässlichkeit. Neben den platten Nasen blickten kleine, schwarze, stechende Schlitzaugen, die tief im Kopfe saßen … Entsetzen und Schrecken gingen vor diesen Horden her.«
Solche Bilder sind in identischerweise heute nicht mehr möglich. Die Bezeichnung Horden für die Russen im aktuellen Krieg fiel aber schon mehrfach. Das korrespondiert mit der ebenfalls stereotypen Annahme von der fremden russischen Kultur. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« von 1914 heißt es, »die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes (sei) sicherzustellen«. Im Wiener Gymnasium wurde ich Ende der 50er Jahre im Geografieunterricht zum »Kulturgefälle von West nach Ost« belehrt.
Die Darstellung Russlands war schon lange auch die eines armen unattraktiven Landes. Davon profitierte die Systemauseinandersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sozialistische Länder waren im Stereotyp zurückgeblieben, ohne gesellschaftlichen Wohlstand, geprägt von Versorgungslücken und Sehnsucht nach weniger alltäglicher Lebensmühe. Wiederum keine Lüge, aber in der Verfestigung im Feindbild hüben wie drüben wirksam. »Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehn wir zu ihr«, war die bekannte, aktivierende Losung 1989 in der DDR.
Der »deutschen Jugend« wurde 1914 das Schreckgespenst russischen Elends in »Der Kampf in Feindesland« deutlich vor Augen geführt: »Zwischen den kahlen Pappeln der Landstraße tauchte aus dem Nebel und Regen ein russisches Dorf auf. Schiefe kleine Lehmhütten, mit winzigen Fenstern, hinter denen keine Blume das hässliche Bild freundlicher gestaltete. Große Pfützen, schlammige Wege, verkrüppelte Birken, hier und da ein scheußlicher, bellender Köter und endlich auch ein paar schmutzig gekleidete und ebenso aussehende Menschen – so monoton zeigte sich ein russisches Dorf wie das andere.«
Gerade russische Dörfer werden heute noch in einer für Westeuropäer*innen ungewohnten, oft sympathischen Einfachheit, aber auch behäbiger Vorgestrigkeit gezeigt. Das Wohlstandsgefälle gegenüber dem Westen gehört zum Russland-Bild. Man stellt unbestreitbare Tatsachen fest und verfestigt zugleich das Stereotyp. Russland habe unter Putin »keinen wirklichen Modernisierungsschritt getan, im Gegenteil: Die eigene Wirtschaft ist global kaum wettbewerbsfähig, sie beruht auf weitgehend veralteter Technologie.« (Reiner Oschmann im nd-Artikel »Rendezvous mit Waterloo«, zitiert nach »Neue Zürcher Zeitung«). Man kann solchen Sätzen fehlenden Wahrheitsgehalt nicht vorwerfen. Dass sie aber geeignet sein können, zu Überheblichkeit auch im militärischen Umgang mit Russland zu verleiten, sollte man nicht übersehen.
Putin ist Gefangener eigener Vereinfachungen geworden. Er meinte wohl, der Weg seiner Soldaten nach Kiew sei so einfach wie 1968 der Weg nach Prag. Aber schon in Prag deutete sich wieder an, was die Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zum Sieg führte. Die Rote Armee siegte mit starker Unterstützung von Partisan*innen, Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft im Volk. In Prag traten unbewaffnete Menschen Panzern in den Weg. 1989 wollten die Völker den erstarrten Sozialismus nicht mehr und stellten sich ihm weitgehend gewaltfrei entgegen. »Alle Völker dieser Erde sind älter, stärker, wichtiger als ihre Dynastien und Herrschaftssysteme«, schrieb Hubert Feichtelbauer 1988 in dem Band »Feindbilder«. Das gilt für jede historische Zielsetzung der Völker, nicht nur progressive. In der Ukraine tritt das Staatsvolk Putins Ambitionen (mit Unterstützung starker »Freunde«) entgegen.
Freilich passiert das in einer geopolitischen Konkurrenzsituation. Es ist tatsächlich Krieg, wenn auch ein asymmetrischer. Es geht deshalb derzeit um Sieg oder Niederlage einer Seite. Krieg löst nach allen historischen Erfahrungen jedoch keine Probleme, sondern schafft neue, wie lange es auch dauern mag, bis diese zum Ausbruch kommen. Mein Feindbild richtet sich also gegen den Krieg und seine Feldherren. Was man Russland mit Recht vorwirft, gehört zum Krieg. Die Wahrnehmung als russische Besonderheit ist dem Feindbild geschuldet. Die Welt schlägt sich mit Problemen herum, die aus der Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Veränderung dieser Aufteilung nach 1989 resultieren. Da bleibt Parteinahme für die eine oder andere Seite im Grunde historisch wenig sinnvoll, weil auch ein Sieg nicht nachhaltig wirkt.
Ich bin bei meinem Anfang. Die emotionalen Reaktionen auf den Krieg sind im Augenblick notwendig und verständlich. Unter imperialen kapitalistischen Konkurrenzbedingungen scheint nachhaltiger Frieden allerdings nicht erreichbar. Schon viele kluge Menschen haben festgestellt, der Kapitalismus trage den Krieg in sich. Ich bleibe daher auf der allein zukunftsträchtigen Seite, auf der Seite des Friedens, und fordere als Linker, den Kampf für Frieden immer mit dem Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaftsperspektive zu verbinden.
Bundesausgabe vom Samstag, 2. April 2022, Seite 10 (5 Views)