Ich erzähle jetzt eine Geschichte, die ich vor langem erlebt und geschrieben habe. Sie soll ein durchaus vermaledeites Wirken einsprachiger Mehrsprachigkeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten schildern. Zur einsprachigen Mehrsprachigkeit gehören neben vielen anderen „Lekten“ auch und vor allem regionale Sprechweisen, die Regio- oder auch Dialekte. Es ist nämlich jeder Dialekt auch eine Sprache mit eigenem Wert.
Die Geschichte, die ich selber erlebt habe, nenne ich: „Der fremde, der charmante und der arme Peter – als Berliner, Wiener und Sachse“.
Mal angenommen man kommt nach längerem Aufenthalt noch gar nicht in Sachsen, sondern in Berlin zurück in seine Geburts- und immer noch Heimatstadt Wien und will sich eine Hose kaufen. Da kann man bereits eine Lektion praktische sozio-kulturlelen Einordnungspotential von Dialekten erhalten. Das Geschäft – nicht der Laden – in dem man es zunächst probiert, ist alteingesessen und heißt nach der Besitzerin „Sopherl“. Der Name bereits ein untrügliches Wiener Signal für das Lokale. Hosen werden vorgeführt, anprobiert, weggelegt, schließlich verworfen. Ein nicht ganz ungefährlicher Vorgang, denn die Sopherl ist „harb“. In Berlin würde man sagen, „rauh aber herzlich“. Spätestens der für Wiener Ohren fremd-sprachliche Fehler beim Abbruch des Einkaufsvorganges brachte diese Charaktereigenschaft mit nicht zu übertreffender sprachlicher Lakonie zum Ausdruck.
Ich sagte: „Schönen Dank, aber ich will noch anderswo „gucken“, was es gibt.“ „Gucken!?“ – Wie kann man nur in Wien?! Die Antwort war also entsprechend: „Na dann gehn‘s gucken. Da werden‘s schön schauen, was Sie seh‘n wern, Sie mit ihrem Gucken!“
Recht geschah mir und ich guckte doch tatsächlich dumm aus der Wäsche, bevor ich schön blöd schaute.
Die Sache mit Hose und Fremd-Dialekt war damit aber noch lange nicht ausgestanden.
Eine Hose wurde schließlich anderswo gekauft, nach Berlin mitgenommen und ein Jahr später dem Umzugsgut nach Sachsen beigefügt. Die Hose war schön und von guter Qualität. In Sachsen stand bald danach die Teilnahme an einer Jugendweihe an. Dazu bedurfte es der schönen Hose, die aber schon ein wenig gelitten hatte. Rechtzeitig in die Reinigung gebracht, sollte sie jedoch für den feierlichen Akt wieder in angemessenen Zustand versetzt werden. Die Reinigung in Leipzig arbeitete nicht sehr schnell. Zwanzig Arbeitstage waren – so erinnere ich mich – einzuplanen. Die Zeit reichte auf einen Tag genau aus. Ein Freitag war bei richtiger Zählung als Auslieferungstag genannt, was die Benutzung der Hose am Samstag sicherte. Am besagten Freitag wollte ich also die Hose abholen.
Hast‘e gedacht. Die Hose war noch nicht fertig – „frühestens in einer Woche“, erhielt ich Auskunft.
Mein ärgerlich aufgenommener Verweis auf den versprochenen Termin brachte „Betriebsgeheimnisse“ zutage. Man wäre eigentlich verpflichtet, die Hose tatsächlich in zwanzig Arbeitstagen zu reinigen, und dürfe auch keinen anderen Auslieferungstermin angeben, weil man sonst Ärger mit der zuständigen Behörde bekäme. In Wirklichkeit aber brauche man länger, weil die zur Verfügung stehenden Kapazitäten nichts anderes zuließen. Ein echter DDR-Spaß, aber zurück zum Thema. Man gab mir einen Rat und eine Telefonnummer. Ich sollte direkt im zuständigen Kombinat bei der Beschwerdestelle anrufen.
Gesagt, getan! Das Gespräch verlief durchaus freundlich, mit Bedauern für mein Problem, sehr viel mehr jedoch mit der Forderung, die Lage zu akzeptieren und selbst eine Lösung zu finden – bis zum Moment einer jähen Wendung. Wo ich denn die Hose gekauft hätte, fragte plötzlich die freundliche Frauenstimme, „bei uns oder anderswo?“
Nachdem ich zunächst meiner Verwunderung über diese Frage Ausdruck gegeben hatte, stellte ich die Dinge klar und nannte den Einkaufsort – – Wien. „Habe ich es mir doch gedacht“, meinte jetzt die Stimme noch eine Spur freundlicher, ja fast schon liebevoll-vertraulich. „Wegen dieses entzückenden Dialekts“, war die gleich hinzugefügte Begründung.
Und hast Du nicht gedacht, wurde mir die Hose noch am gleichen Nachmittag des Freitags(!!!) ins Haus geliefert.
Sage jetzt aber niemand, das „Sächsische“ sei gegenüber dem Wienerischen vielleicht wertlos. Das Gegenteil konnte ich erfahren und das ausgerechnet noch in Wien. Inzwischen DDR-Bürger geworden, beantragte ich eine Reise „in dringenden Familienangelegenheiten“ nach Wien. Die Mutter hatte Geburtstag. Vierzehn Tage wurden mir genehmigt und hundert Schilling als Taschengeld mitgegeben. Hundert Schilling, das waren vierzehn Deutsche Mark. Für jeden Tag eine Mark – ein bisschen wenig, eigentlich gar nichts. Um aus dem „Gar-Nichts“ mit etwas Glück doch eine brauchbare Summe zu machen, steuerte ich, kaum am Wiener Südbahnhof angekommen, ein Lokal mit Geldspielautomaten an.
Es fing gar-nicht so schlecht an. Die mitgebrachte Summe war schon mehr als verdoppelt, als sich die Pechsträhne langsam heranschlich. Erst fast unbemerkt und dann brutal, so dass nur ein Weiterspielen bis zum bitteren Ende die Hoffnung auf eine neuerliche Wende – und jetzt wieder zum Guten – aufrecht erhalten konnte. Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber sie stirbt eben auch. Nun dann eben ganz ohne Geld, dachte ich mir. Die Mutter musste für die zwei Wochen ohnehin aushelfen. Sie tat es ja sogar gerne. Da war kein Problem. Die Bahnkarte galt auch noch für die Straßenbahn. Da war ebenfalls kein Problem.
Ein anderes, unabweisliches meldete sich jedoch wie ein Blitz. Selbiger schlug nämlich durchs Gedärm und die Gewissheit mit einem dringenden Geschäft auf keinen Fall mehr so lange warten zu können, bis die rettende Wohnung der Mutter erreicht war, stellte sich ein mit Donner, der ja jeden Blitz unweigerlich begleitet. Was tun? (fragte schon Lenin)
Schön war die Klofrau nicht. Mit Charme war kaum etwas auszurichten. Was dann? „Gönn se misch manschemal umsonst uf de Doilette lassen? Isch muss ganz nödisch und habe geeen Geld“, versuchte ich mich panisch auf Sächsisch. „Ah, sie san a Saxe“, erkannte die gute Frau, „aus der DDR! Na ihr hobts jo nie a Göd. Na gehn‘s scho, bevor‘s in die Hosn scheißen.“ Signalisierte die Klofrau ihre Gnade vor Recht.
So weit so gut, aber aber was lernt uns das sagte mein Klassenlehrer immer? In Wien übrigens Klassenvorstand genannt.
Drei verschiedene regionale Sprachen bzw. Sprechweisen (Berlin, Wien, Sachsen) werden (einmal sogar schon nach einem Wort) gemeinsam mit dem Sprecher als Nachricht unterschiedlich verstanden und bewertet. Das geschieht in Abhängigkeit vom jeweiligen sozio-kulturellen und sprachkulturellen Hintergrund und führt zu unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der sozio-kulturellen Einordnung des Sprechers: Er ist einmal unerfreulich fremd (Berliner bzw. Piefke in Wien), er ist charmant (Wiener in Sachsen), er ist arm (Sachse in Wien).
Zugleich sind in den jeweiligen Vorgängen Machtverhältnisse deutlich geworden: Einem Fremden verkauft hier niemand was, zumal, wenn er piefchinesisch spricht, einem Wiener Charmeur erfüllen wir auch unerfüllbare Wünsche, einem armen Sachsen helfen wir auch ohne Geld.
Ohne fremdkulturellen Hintergrund würde es nicht so funktionieren. Das „Eigene“ und das „Fremde“ stehen also in einem Wechselverhältnis, das die Kooperation spezifisch formt und gestaltet. Das kann unterschiedliche ausfallen; je nachdem, ob man Eigenes beurteilt oder Fremdes. Interkulturalität ist also in diesem Spannungsverhältnis unterschiedlicher Selektivität ausgesetzt.
Alles dem Erzählten zu Grunde Liegende gilt auch für „echte“ Einzelsprachen und den mit ihnen verbunden Kulturen.
Wir stellen fest:
Was Menschen über Sprachen denken, denken sie auch über deren Sprecher*innen
Kann sehr gefährlich werden