Feindbild Russland – Ein Erfahrungsbericht (ndDIE WOCHE, 02. April 2022, S. 10)

Feindbild Russland
Zwischen Fakten und Vorurteilen: Wie sich Stereotype verfestigen. Ein Erfahrungsbericht
Peter Porsch
Als ich im Oktober 1944 in einem Vorort von Wien geboren wurde, tobte noch der Zweite Weltkrieg. Ich erblickte in einem düsteren Luftschutzkeller das Licht der Welt. Vom Krieg bekam ich unmittelbar nichts mit. Das Inferno hielt nicht mehr lange an. Wohl aber weiß ich aus eigener Anschauung von den Folgen eines Krieges: verzweifelte Menschen, verwüstete Städte, Verletzungen aller Art, Hunger, Flüchtlinge, Soldatengräber in Parks, Ruinen und Bombentrichter als Spielstätten …
Es sollte eigentlich nur mehr ein Feindbild geben: das Feindbild Krieg. Und sein positives Äquivalent, die Sehnsucht nach Frieden. Manche Feindbilder blieben trotzdem, manche entstanden neu. Die siegreichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich verloren zumindest in Österreich fast übergangslos ihren feindlichen Nimbus; ihr Bild verwandelte sich in ein freundlich-erwartungsvolles von Befreiern. Die Sowjetunion dagegen blieb im Verein mit dem Feindbild Kommunismus, meist vereinfacht auf Russland reduziert, in der öffentlichen Meinung stark negativ bewertet. Alles, was hierzu der Nationalsozialismus an Vorurteilen aufgegriffen und hinzugefügt hatte, wirkte ziemlich ungebrochen weiter. Der Atombombenabwurf der USA in Hiroshima und Nagasaki wurde zwar deutlich kritisiert. Der Korea-Krieg gebar Losungen wie »Ami go home«. Die Kuba-Krise brachte die Angst vor einem Atomkrieg in Erinnerung. Der Vietnam-Krieg hatte eine Antikriegsbewegung zur Folge, die in der westeuropäischen Friedensbewegung und dem Protest gegen den so genannten Nato-Doppelbeschluss zur politischen Macht wurde.
Das alles lebte weiter, verlor jedoch immer wieder seine politische Kraft. Ein Übriges tat brutale russische Militärmacht in Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968. Die Schlussakte von Helsinki 1975 darf als gelungener Ausgleich vernünftiger Politik auf allen Seiten mit friedlicher Perspektive allerdings auch nicht vergessen werden.
Alle aus dem Faschismus verbliebenen und von diesem aus früheren Zeiten übernommenen und zum Feindbild gegen Russ*innen und Russland gewordenen Vorurteile bekamen in der DDR immerhin eine Delle. Man kannte zu viele Russ*innen und Russland aus den persönlichen Begegnungen. Das wirkt heute noch bei Älteren nach, lässt aber dennoch zu, in einer Krisensituation ein Feindbild zu reaktivieren, das in der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung deutlich und mehrheitlich Partei ergreifen lässt gegen Russland. Die in der DDR übliche Bezeichnung Freunde für Sowjetbürger*innen (meist verallgemeinernd als Russen verstanden) und ihre Armee hatte immer auch einen ironisch-distanzierten Unterton.
Eine stereotype Beurteilung von Völkern und ihrem Verhalten ist heute kaum noch konfliktfrei möglich. Verschwunden ist sie aber auch nicht. Wer es nicht glaubt, sei jetzt auf die vielfältigen Diskriminierungen von Russ*innen in Sport, Kunst und Kultur, in Schulen und im Alltag erinnert. Vielleicht, ja hoffentlich bleiben das Einzelfälle. Öffentlicher Protest gegen den Krieg in der Ukraine wird aber in den allermeisten Fällen zur Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland. Natürlich hat das seine legale Ursache im völkerrechtswidrigen Vorgehen Putins, aber auch das Feindbild funktioniert. Zum Beispiel in der Zurückdrängung berechtigter Kritik an den Vorgehensweisen der USA und Westeuropas. Die Kritik am Krieg in Jugoslawien hatte noch mal Massencharakter. »Free Assange« hat nur geringes Echo. Guantanamo ist fast aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Man weiß aber sehr genau um Nawalny und die innerrussischen Unterdrückungsmaßnahmen.
Das Feindbild Russland hat eine unheilvolle Geschichte. Und seine Eigenheiten. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« vom 4. August 1914 anlässlich der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD war unter anderem zu lesen: »Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus, der sich mit dem Blut der besten des eigenen Volkes befleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren.« Sicher entsprachen dieser Begründung Tatsachen. Sie führten ja auch zu Aufständen und schließlich zur Oktoberrevolution. Wenn sich die Charakterisierung der Zarenherrschaft zum Stereotyp eines Feindbildes verfestigt, wirkt es auch ungeprüft und ist auf alle folgenden autokratischen Herrschaftskonstellationen übertragbar. Lenin, Stalin, Breschnew, nun auch Putin werden nach diesem Modell undifferenziert dem gleichen Framing unterworfen.
Dem folgt die Aufnahme besonders rücksichtsloser russischer Kriegsführung ins Feindbild. Ein frühes Beispiel findet sich in dem 1914/15 erschienenen Jugendbuch »Der Kampf in Feindesland«. Das erste Kapitel trägt die Überschrift »Die russischen Hunnen«. Solche überfallen angeblich seit jeher friedliche Bauern. Russen und Hunnen treten in »Horden« auf und sind fremdrassig: »Jetzt konnte man schon die kleinen zottigen Pferde erkennen. Und nach einer kurzen Spanne auch die braunen Gestalten, die auf den Tieren wie festgegossen saßen. Die Gesichter waren von einer abschreckenden Hässlichkeit. Neben den platten Nasen blickten kleine, schwarze, stechende Schlitzaugen, die tief im Kopfe saßen … Entsetzen und Schrecken gingen vor diesen Horden her.«
Solche Bilder sind in identischerweise heute nicht mehr möglich. Die Bezeichnung Horden für die Russen im aktuellen Krieg fiel aber schon mehrfach. Das korrespondiert mit der ebenfalls stereotypen Annahme von der fremden russischen Kultur. In der Extra-Ausgabe des »Vorwärts« von 1914 heißt es, »die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes (sei) sicherzustellen«. Im Wiener Gymnasium wurde ich Ende der 50er Jahre im Geografieunterricht zum »Kulturgefälle von West nach Ost« belehrt.
Die Darstellung Russlands war schon lange auch die eines armen unattraktiven Landes. Davon profitierte die Systemauseinandersetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sozialistische Länder waren im Stereotyp zurückgeblieben, ohne gesellschaftlichen Wohlstand, geprägt von Versorgungslücken und Sehnsucht nach weniger alltäglicher Lebensmühe. Wiederum keine Lüge, aber in der Verfestigung im Feindbild hüben wie drüben wirksam. »Kommt die D-Mark, bleiben wir; kommt sie nicht, gehn wir zu ihr«, war die bekannte, aktivierende Losung 1989 in der DDR.
Der »deutschen Jugend« wurde 1914 das Schreckgespenst russischen Elends in »Der Kampf in Feindesland« deutlich vor Augen geführt: »Zwischen den kahlen Pappeln der Landstraße tauchte aus dem Nebel und Regen ein russisches Dorf auf. Schiefe kleine Lehmhütten, mit winzigen Fenstern, hinter denen keine Blume das hässliche Bild freundlicher gestaltete. Große Pfützen, schlammige Wege, verkrüppelte Birken, hier und da ein scheußlicher, bellender Köter und endlich auch ein paar schmutzig gekleidete und ebenso aussehende Menschen – so monoton zeigte sich ein russisches Dorf wie das andere.«
Gerade russische Dörfer werden heute noch in einer für Westeuropäer*innen ungewohnten, oft sympathischen Einfachheit, aber auch behäbiger Vorgestrigkeit gezeigt. Das Wohlstandsgefälle gegenüber dem Westen gehört zum Russland-Bild. Man stellt unbestreitbare Tatsachen fest und verfestigt zugleich das Stereotyp. Russland habe unter Putin »keinen wirklichen Modernisierungsschritt getan, im Gegenteil: Die eigene Wirtschaft ist global kaum wettbewerbsfähig, sie beruht auf weitgehend veralteter Technologie.« (Reiner Oschmann im nd-Artikel »Rendezvous mit Waterloo«, zitiert nach »Neue Zürcher Zeitung«). Man kann solchen Sätzen fehlenden Wahrheitsgehalt nicht vorwerfen. Dass sie aber geeignet sein können, zu Überheblichkeit auch im militärischen Umgang mit Russland zu verleiten, sollte man nicht übersehen.
Putin ist Gefangener eigener Vereinfachungen geworden. Er meinte wohl, der Weg seiner Soldaten nach Kiew sei so einfach wie 1968 der Weg nach Prag. Aber schon in Prag deutete sich wieder an, was die Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zum Sieg führte. Die Rote Armee siegte mit starker Unterstützung von Partisan*innen, Ausdruck einer unmittelbaren Kampfbereitschaft im Volk. In Prag traten unbewaffnete Menschen Panzern in den Weg. 1989 wollten die Völker den erstarrten Sozialismus nicht mehr und stellten sich ihm weitgehend gewaltfrei entgegen. »Alle Völker dieser Erde sind älter, stärker, wichtiger als ihre Dynastien und Herrschaftssysteme«, schrieb Hubert Feichtelbauer 1988 in dem Band »Feindbilder«. Das gilt für jede historische Zielsetzung der Völker, nicht nur progressive. In der Ukraine tritt das Staatsvolk Putins Ambitionen (mit Unterstützung starker »Freunde«) entgegen.
Freilich passiert das in einer geopolitischen Konkurrenzsituation. Es ist tatsächlich Krieg, wenn auch ein asymmetrischer. Es geht deshalb derzeit um Sieg oder Niederlage einer Seite. Krieg löst nach allen historischen Erfahrungen jedoch keine Probleme, sondern schafft neue, wie lange es auch dauern mag, bis diese zum Ausbruch kommen. Mein Feindbild richtet sich also gegen den Krieg und seine Feldherren. Was man Russland mit Recht vorwirft, gehört zum Krieg. Die Wahrnehmung als russische Besonderheit ist dem Feindbild geschuldet. Die Welt schlägt sich mit Problemen herum, die aus der Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und der Veränderung dieser Aufteilung nach 1989 resultieren. Da bleibt Parteinahme für die eine oder andere Seite im Grunde historisch wenig sinnvoll, weil auch ein Sieg nicht nachhaltig wirkt.
Ich bin bei meinem Anfang. Die emotionalen Reaktionen auf den Krieg sind im Augenblick notwendig und verständlich. Unter imperialen kapitalistischen Konkurrenzbedingungen scheint nachhaltiger Frieden allerdings nicht erreichbar. Schon viele kluge Menschen haben festgestellt, der Kapitalismus trage den Krieg in sich. Ich bleibe daher auf der allein zukunftsträchtigen Seite, auf der Seite des Friedens, und fordere als Linker, den Kampf für Frieden immer mit dem Kampf für eine demokratisch-sozialistische Gesellschaftsperspektive zu verbinden.
Bundesausgabe vom Samstag, 2. April 2022, Seite 10 (5 Views)