Für Christinnen und Christen ist der Advent eine hoffnungsvolle Periode des Wartens auf die Geburt des Erlösers. Sie singen, „tauet Himmel den gerechten, Wolken regnet ihn herab“, und gewinnen dabei die Sicherheit der Erfüllung ihres Flehens. „Gabriel flog schnell hernieder, kehrte mit der Antwort wieder, sieh ich bin die Magd des Herrn, was er will erfüll ich gern.“ Jetzt beginnt ein neues Kirchenjahr und ein neuer Versuch, übers Jahr über den Tod des Erlöser hinauszukommen. Seiner Geburt folgen sein Tod und diesem die Auferstehung. Zwar verlässt er die zu erlösende Welt bald wieder gen Himmel, aber er hinterlässt den Glauben an sich und seine historische Mission, worin immer wieder die Kraft auf einen Neuanfang liegt. Christen und Christinnen geht es gut. Sogar ihr Tod wird schließlich im Glauben überwunden.
Und die anderen? Zum Beispiel wir Linken? „Uns aus dem Elend zu erlösen, das müssen wir schon selber tun,“ wird von uns gesungen; kein Vertrauen in einen, der das für uns macht, nicht in Gott und nicht in Kaiser und Tribun. Eine Menge aber an Selbstvertrauen, schon seit geraumer Zeit, mit unterschiedlichem Erfolg, am Ende aber nur mit Niederlagen. Fehlt uns ein Gott oder liegt es an uns selbst? Es liegt an uns selbst. Eine niederschmetternde Erkenntnis, die uns auch unsere Vordenker:innen hinterlassen haben. Wir sind unsere eigenen Messiasse. Nur wir können uns unseren eigenen Advent schaffen. Sein glückliches Ende verschwand jedoch immer wieder in der Enttäuschung. Freilich auch die gebiert unsere eigene Verantwortung.
Der Zeugungsakt ist der Streit. Kein Streit um die Wahrheit, kein Streit um den richtigen Weg zu Erlösung, nur ein Streit um das Recht-haben. Was dem Streit Richtung und Ergebnis geben könnte, nämlich kluge Worte von „Klassiker“ genannten Menschen, werden selbst zum Gegenstand meist unversöhnlichen Streits um ihr richtiges Verständnis. Deshalb bleibt die Geschichte der Linken eine Geschichte der Spaltungen, sprich: der einfachsten, aber erfolglosesten Lösungen von Dissens. Einigkeit von Linken war nur selten und immer nur für kurze Zeit vor der nächsten Spaltung im Diskurs erreichte Einigkeit. Zeitweilig war sie erzwungene. Ach ja, erzwungene Einigkeit hielt zwar länger, endete aber in noch größeren Misserfolgen.
Was tun? Jetzt die Frage gestellt, hilft auch Lenin nicht mehr. Langsam kommen Zweifel auf, ob Linke wirklich die Richtigen sind, um das in der Geschichte zu bewirken, was sie sich selbst als Aufgabe vorschreiben. Wohlgemerkt, es geht um Die „Linken“, nicht um eine Partei „Die Linke“ oder wie auch immer sie heißen mag, die aber den Anspruch vertritt, Menschen zu befähigen, ihre Geschichte selbst zu machen. Letzteres wird aber wegen der real existierenden und real existierend gewesenen Linken immer mehr zur Schimäre.
Die Konservativen und Konterrevolutionäre von Rechts bis in unsere Reihen haben uns den Fetisch Eigentum und Geld zum Erhalt ihrer Einheit voraus. Selbst als Linke vorgaben, (Volks-)Eigentum geschaffen zu haben, wurden es von seinen Sachwaltern sofort aufgegeben, als andere danach griffen, und niemand war da, um es zu verteidigen. Wir waren wieder blank, nur mehr ausgestattet mit unseren Ideen – aber genau in denen lauerte immer die Spaltung. Die Theorie wurde zerstörerische Gewalt, als sie uns zwar ergriff, aber keine nachhaltige, ständig neu zu überprüfende, gegen Angriffe resistente Praxis schuf.
Ihre Sicherheit war labile, undemokratische Gewalt, die auf Überzeugung der Massen pfiff. „Genossen, mit der Macht lassen wir nicht spielen“, sagten jene, die nicht wussten, was zu machen wäre, als man ihnen die Macht nahm.
Gibt es dennoch einen linken Advent?
Die Antwort ist „Nein“, sagt die mittlerweile Jahrhunderte überdauernde Erfahrung. Die Antwort muss „Ja“ sein, fordert eine vielleicht schon Jahrtausende überlebende Sehnsucht. Marx und Engels, die originären Träger der dialektischen Einheit von linker Sehnsucht, Vernunft und auch schon einiger einschlägiger Erfahrung müssen nicht in jedem Punkt und Komma zu den ersehnten und akzeptierten Erlösern werden, wohl aber im „messianischen“ Kern ihrer Aussagen. Diese sind nicht göttlichen Ursprungs (der größte Vorteil, weil sie sonst nur von Menschen erdacht wären, nicht jedoch erkannt), sie fußen vielmehr in rationaler Analyse des „So-Seins“ gesellschaftlicher Welt sowie der Extrapolation ihrer möglichen menschlichen Zukunft. Ihr „Manifest der Kommunistischen Partei“ war zunächst eine analytische Abrechnung mit allen zeitgenössischen Spielarten von „Sozialismus“. Es kam ein bunter Reigen zusammen, in dem nicht Harmonie der Bewegung angesagt war, sondern jede Menge Dissonanzen und Fußtritte. Es ging um den „kleinbürgerlichen Sozialismus“, um den „deutschen oder ‚wahren‘ Sozialismus“, den „konservativen oder Bourgeoissozialismus“ und schließlich den „kritisch-utopistischen Sozialismus oder Kommunismus“. Sie begründeten sich alle in enttäuschten oder erdachten Klasseninteressen, in (frommen) Wünschen und in eingebildetem Sendungsbewusstsein. Vor der gesellschaftlichen Realität konnten sie als Zukunftskonzepte nicht standhalten.
Wir wissen das alles seit langem, wir haben das alles schon oft gelesen, wir kennen der Weisheit letzten Schluss: Es sind Klassen in der Gesellschaft, die im Kampf Geschichte machen, und es ist die Arbeiterklasse, die das Tor ins „Reich der Freiheit“ eröffnen kann, sowohl für und über die Freiheit der einzelnen Individuen und zugleich nur mit Hilfe der Einheit der Klasse: Die Freiheit jeder und jedes Einzelnen ist die Garantie für die Freiheit aller und die Erfüllung der Vereinigung der Proletarier aller Lände, die unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg. Jetzt haben wir Ziel und unverzichtbare Handlungsbasis zur Erreichung des Ziels in dialektischer Einheit und Kürze. Es sind die Lichter des Adventskranzes angezündet: Zweifel an allem ( erstes Licht ), strenge Analyse von Ideen und Wirklichkeit, auch in ihrem Verhältnis (zweites Licht), begründbare Erkenntnis über den Weg zu einer ersehnten menschlichen Gesellschaft (drittes Licht), Herstellung der Voraussetzung für alles weitere einschlägig sinnvolle Handeln (viertes Licht).
Reicht das aus?
Sicher nicht! Wir verharren immer noch im Reich der Ideen, in dem man sich im Streit eigentlich nur verirren kann. Es fehlt das materialistische Ziel des Handelns. Es fehlt sozusagen der Weihnachtsbaum, das leuchtende Ziel, das im Ergebnis real behangene, geschmückte, und mit dem Schmuck benutzbare Objekt aller Sehnsucht. Marx hat zum Beispiel weitergedacht in „Das Kapital“. Er bestimmt das entscheidende Handlungsziel und die unabdingbare Grundlage des Reiches der Freiheit, die Expropriation der Expropriateure. Sie wird das Werk sein einer Diktatur des Proletariats. Und genau daran ist die Klasse bis heute gescheitert. Sie hat wohl schon expropriiert und durch ihre Vertreter:innen auch zur Genüge simple Diktatur praktiziert. Nur was hatte die Klasse davon? Sie wurde damit nicht neuer Eigentümer und als Klasse Herrscher über die Verhältnisse. Die Klasse hatte kein Bewusstsein davon, Eigentümer und kollektiver „Diktator“ zu sein. Sie hatte sich bisher nichts wirklich und dauerhaft angeeignet, wie auch immer es versucht wurde. Ohne Eigentum aber gibt es keine Einigkeit. Das lehrt uns, wie gesagt, das Eigentum der bisher besitzenden Klassen. Eigentum setzt dem Streit der guten und schlechten Ideen die Grenzen. Der Streit geht letztendlich um die Sicherung des Eigentums und findet so immer wieder sein Finale in der Diktatur der Eigentümer. Aktuell bleibt der Kapitalismus deshalb allem erdachten oder auch real existierenden Sozialismus/Kommunismus überlegen, ideologisch, politisch und praktisch.
Der Weihnachtsbaum meiner Kindheit war gut behangen mit Süßigkeiten. So lange der Baum in der Stube stand, war der Baumbehang tabu. Danach wurden die Süßigkeiten gerecht – auch sozial gerecht – aufgeteilt; gleich viel für jedes Kind, etwas weniger für die Eltern. Davor achteten wir alle darauf, dass keine/r heimlich etwas für sich nahm. Der Baum und sein süßer Schmuck war kollektives Eigentum der Familie. Nur sein Schutz brachte (gleichgestellten) Vorteil für alle.
Also nochmal: De omnibus dubitandum! Haben Linke jemals die Expropriation der Expropriateure nachhaltig zu Ende gebracht? Haben Linke ausreichend analysiert, warum das nicht geklappt hat, warum sie darin allem bisherigen Eigentum und seiner Eigentümern unterlegen waren? Nein, sie haben offensichtlich nicht und konnten deshalb auch keine weiterführenden Erkenntnisse über eine nachhaltige, die Klasse selbst überzeugende politische Praxis erringen.
Der Geburt des „Messianischen“ war deshalb zwangsläufig sein Tod gefolgt. Eine Himmelfahrt irgendwelcher gottgleich gedachter Propheten gab es nicht. Sie sind nur, wie alle Menschen auch, gestorben. Linke selbst müssen die „Frohe Botschaft“ weiterschreiben und deren „Auferstehung“ organisieren; mit Zweifel, durch Analyse, in Einigkeit wegen des gemeinsamen Ziels, das nicht in Rechthaberei besteht, sonder ganz materialistisch in zumindest einem nachvollziehbaren Konzept einer neuen Art des Eigentums als auch seiner Sicherung; ein Eigentum als Erlösung, das nicht neuerliche Expropriation provoziert, sondern stabil den Nutzen aller mehrt, nicht weil wir uns das schwören, sondern weil es nichts anderes zulässt.