Von der hermeneutischen Funktion der Vielfalt

Die Sache ist einfacher, als der Titel vielleicht annehmen lässt. Worum geht es? Die „Vielfalt“ ist über uns gekommen mit den vielen, vielen Menschen, die hier Zuflucht suchen vor Krieg, Gewalt, Armut. Und schon greift eine erste hermeneutische Funktion dieser Vielfalt: Fassen wir unter „Hermeneutik“ einmal ganz simpel die „Kunst des Verstehens von Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art …“ (vgl. Duden – Deutsches Universalwörterbuch, Berlin 2015), dann wird uns sehr schnell klar, dass die Vielfalt nicht einfach „über uns gekommen“ ist wie eine Naturkatastrophe. „Strom“, „Schwemme“, „Flut“ sind die falschen Metaphern. Menschen suchen Schutz vor von Menschen verschuldetem Elend, von Menschen ausgeübter Gewalt. Zum Zweiten bringt uns die hermeneutische Funktion der Vielfalt zur schmerzhaften Erkenntnis, dass viele Menschen hier auf die Zuwanderung nicht nur mit Unverständnis und Angst reagieren, sondern mit offener Ablehnung, mit Hass und kriminellen Taten. Eine fatale „Hermeneutik“, derer es eigentlich nicht gebraucht hätte. Um faschistoide, neofaschistische, rechtsradikale, rassistische, ethnozentrische und weitere im Lexikon der Unmenschlichkeit verzeichnete Einstellungen und Handlungsmaximen wissen wir spätesten seit 1992 und den Pogromen in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und anderswo. Nur hat man sich seit damals nicht um ein „Verstehen“ bemüht, sondern eher nur um gefährlich-verdrängendes Verständnis. Die CDU in Sachsen – seit 1990 übermächtige Regierungspartei – hat sich dabei besonders hervorgetan. Der (kleine) König Kurt Biedenkopf versicherte uns sehr zeitig schon, dass die Sachsen immun gegen rechtsradikales und ausländerfeindliches Gedankengut seien. Welch großer Irrtum. Sehr viele waren nie immun dagegen und sie wurden auch nie vorsorglich „geimpft“. Jetzt tut man aber erstaunt und empört über die neuerlich ausgebrochene „Infektion“. Es tritt ein dritte Version der hermeneutischen Funktion der Vielfalt in Aktion. Politiker und Politikerinnen, Menschen, die vor kurz und auch schon lang Positionen vertraten, die die beschworene „Epidemie“ nähren konnten, entsinnen sich plötzlich eines Besseren. Gegnerinnen und Gegner der Akzeptanz und Gleichstellung von sexueller Vielfalt, sind plötzlich zu vehementen Befürworterinnen und Befürwortern derselben geworden. Eine CDU, die in Sachsen immer wieder versuchte, Religion und Staat, Kirche und Staat zumindest in eine enge Verbindung zu bringen, predigt auf einmal deren strenge Trennung als einen unserer konstitutiven Werte. Eine Politik, die die beträchtlichen Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen akzeptiert, entdeckt die Gleichberechtigung der Geschlechter. Machos, die sich über „Männerwitze“ amüsieren, reden und schreiben über ein „nicht tolerierbares Frauenbild“, das von Flüchtlingen aus dem „arabischen Raum“ mitgebracht wurde, wo Übergriffe a lá Sylvester in Köln an der Tagesordnung seien (vgl. z.B. den CDU-Sachsenbrief vom Januar 2016). Schön wäre es, wenn ihre Metamorphose nachhaltig wäre. Ich erinnere mich noch gut der Debatten im Sächsischen Landtag um die „Bewahrung der Schöpfung (!)“ als Teil der Präambel der Landesverfassung. Ich erinnere mich an die Auseinandersetzungen um die „Umsetzung des besseren Schulkonzepts“. Die CDU forderte 2004 schulische Bildung, „insbesondere anknüpfend an die christlichen Traditionen im europäischen Kulturkreis.“ Die „Ringparabel“ des Sachsen Lessing strafte man mit Ignoranz. Den Aasgeier Pegida konnten Hellhörige jedoch schon trapsen hören und sie wiesen auch auf die Gefahren hin.
Die beste „hermeneutische Funktion der Vielfalt“ käme jedoch zur Wirkung, wenn sie im Sinne ihrer Entdecker „ethnozentrische Isolierung“ überwinden hülfe. Die bereits 1984 gegründete „Gesellschaft für interkulturelle Germanistik“ meinte nämlich, Vielfalt sollte uns lehren, „kulturelle Unterschiede zu respektieren und ihre Erkenntnisse zum besseren Verständnis der eigenen und fremden Kultur zu nutzen.“ „Das Fremde wird so zum Ferment der Kulturentwicklung.“ (Informationsblatt der GIG 6/85)

(Geschrieben für die März-Ausgabe der Mitgliederzeitschrift einer unersetzlichen linken Partei, 25.02.2016)

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