Die Zustellung eines Eilbriefes zwanzig Jahre später oder zwei Arten zu singen

Vielleicht kennt ihn nicht mehr jede und jeder, den Otto Reutter, der seine Couplets in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts sang. Eines hatte den Titel „Zwanzig Jahre später“ und wollte uns launig beibringen, dass sich die wahren Verhältnisse eben immer erst zwanzig Jahre später herausstellen; und auch ein Eilbrief manchmal erst nach dieser Zeit seinen Adressaten oder seine Adressatin erreicht.
Zwanzig Jahre später kann manchmal auch vierzig Jahre später sein. Das war vielleicht mit der DDR so. Ich erinnere mich noch sehr gut des zwanzigsten Jahrestages dieses Landes. Um ihn gebührend zu würdigen, lachte uns ein hübsches Mädchen von den Plakaten an. „Ich bin zwanzig“ wurde uns vermeldet. Die Republik und das Mädchen waren es und beide wollten die Kraft und Schönheit der Jugend für sich in Anspruch nehmen und geliebt werden. Zwanzig Jahre später kam es jedoch noch schlimmer als bei Otto Reutter. Der riet allen frisch Verliebten, sich die Mutter der Begehrten anzusehen, um zu ahnen, was sie zwanzig Jahre später erwarten könnte. Solches ist aus heutiger Sicht politisch natürlich nicht korrekt. Mit der DDR kam es jedoch ohnehin ganz anders. Zwanzig Jahre später, also zum vierzigsten Jahrestag, stellte sich das junge Mädchen als Fälschung heraus. Wir begegneten gar keiner reifer gewordenen Frau, sondern einem überalterten Männerzirkel, der sich Politbüro nannte und der seine Altersleiden auf die von ihm verwaltete Republik übertragen hatte. Der Tod kam recht plötzlich. Trauer ist verständlich. Rückgängig ist nichts mehr zu machen. Aber es gab ja ein Neugeborenes – das vereinigte Deutschland.
Sozusagen als Eilbrief trat es in die Geschichte ein. Es konnte vielen nicht schnell genug gehen, der Brief mit der Geburtsanzeige war hurtig geschrieben, Marke drauf, ab zur Post. Die Menschen warteten auf die Nachricht. In der Eile war nicht genau zu erkunden, was denn noch so alles in diesem Brief drin stand. Erfreuliches? Unerfreuliches? So schnell war das auch nicht heraus zu bekommen. Der Brief wurde nicht sofort zugestellt, jedenfalls nicht als Ganzes. Anstelle des kompletten Briefes gleich, gab es nur Versprechen über gute Nachricht, zum Beispiel über blühende Landschaften. Jetzt aber, zwanzig Jahre später, ist der Brief endgültig und vollständig angekommen.
Ist ja gar nicht alles schlecht, was drin steht: Die Welt steht uns offen, ist die gute Nachricht. Natürlich nur, wenn man das Geld dafür hat, ist die schlechte Nachricht. Wir haben eine soziale Marktwirtschaft, ist die gute Nachricht. Sozial ist aber nur möglich, wenn der Markt dies hergibt bzw. die am Markt es hergeben wollen, ist die schlechte Nachricht. Unsere Städte und Dörfer ziert ein freundliches Gesicht und in der DDR verfallene Bausubstanz ist saniert und bewohnbar gemacht, ist die gute Nachricht. Wohnen kann darin aber nur mehr der und die, die das viele Geld dafür aufbringen können, ist die schlechte Nachricht. Wir haben eine moderne Medizin mit guten Apparaten und vorzüglichen Arzeneien, ist die gute Nachricht. Alles ist aber so teuer, dass sich das immer weniger noch leisten können, ist die schlechte Nachricht usw. usw. Und es gibt auch schlechte Nachrichten ohne gute Nachrichten als Ausgleich: Kriege kann man wieder führen – in Jugoslawien, in Afghanistan und auch heimlich anderswo. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Neid bringt da nichts, steht im Brief, gehört sich nicht – jedenfalls nicht für die unten. Die oben dürfen natürlich schon peinlich darauf achten, dass da unten niemand zu viel bekommt. Die Jugend aber schaut optimistisch in die Zukunft. Naja, nicht die gesamte. Die aus einkommensschwachen Schichten, die aus sozial prekären Gruppen, die, die halt nicht viel haben und nicht selten auch einfach zu wenig, die trüben dieses hoffnungsvolle Bild. Wer betuchte Eltern hat, dem oder der wird es aber gut gehen. Ist doch wiederum eine gute Nachricht! „Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Matthäus 25,29). Das ist christlich. Das ist sozial.
Es waren offensichtlich zwei Briefe, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden. Einer für jene, die haben, und einer an jene, die halt nicht haben. Für Letztere bleibt allein der von Otto Reutter gesungene Trost: „In fünfzig Jahren ist alles vorbei!“
Aber Moment! Da irrt der Sänger: Er hat es vor mittlerweile neunzig Jahren gesungen und es ist dennoch alles beim Alten geblieben. Hierzulande zwar mit einer Unterbrechung von vierzig Jahren, die aber bei aller Hoffnung nicht die Lösung brachte. Es bleibt nichts übrig. Wir singen weiter „Wacht auf Verdammte dieser Erde …“
Geschrieben für Sachsens Linke, 16.09.2010

2 Gedanken zu „Die Zustellung eines Eilbriefes zwanzig Jahre später oder zwei Arten zu singen

  1. Mike

    Ohne klugscheißen zu wollen, aber der Mensch, der das mit den 50 Jahren singt ist nicht Ernst sondern Otto Reutter. „Heut‘ haben wir die, morgen jene Partei – und in fünfzig Jahren ist alles vorbei.“

  2. Peter Porsch Beitragsautor

    Hallo Mike, Du hast natürlich recht. Die Assoziationen verwirren einen immer wieder. Ich habe es schon korrigiert. Aber wenigstens angefangen habe ich richtig mit Otto.

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