Vom Reisen und anderer Mobilität

Fast könnte mein Text mit, „es war einmal …“ anfangen. Es wird August, bis Sie, liebe Leser*innen, diese Ausgabe von Links in der Hand halten werden oder auf einem Bildschirm finden; August, der letzte Monat der Hoch-Zeit des Urlaubens. Ja, es war einmal, aber dieses Jahr doch nicht so ganz. Urlaub war für viele anders gelaufen als sonst. Da war Corona mit im Spiel. Viele wollten deshalb gar nicht verreisen und erholten sich zu Hause – auf dem Balkon, im eigenen Garten (so man hat), im Park und auf Wiesen vor der Stadt, hinter dem Dorf, am nahen See. Andere blieben wenigstens im Lande, manche zog es doch wieder in die weitere Ferne.
Freilich bleibt wahr, was Matthias Claudius schon 1786 besungen hatte: „Wenn jemand eine Reise tut, dann kann er was erzählen.“ Der Poet schildert in seinem Lied die Weltreise seines Helden Urian: Europa, Amerika, Asien, Afrika. Die Schlussfolgerung ist jedoch fast banal: „Und fand es überall wie hier, … die Menschen grade so wie wir und ebensolche Narren.“ Die Lehre des Liedes sollte uns belustigt und zugleich besorgt aufmerken lassen: Ja, der Narreteien finden sich viele in dieser Welt und sie gleichen sich trotz Vielfalt. Das Reisen selbst gehört oft genau so dazu wie die Stubenhockerei. In der österreichischen Tageszeitung KURIER – auch ich war verreist – lese ich am 4. Juli 2020 auf Seite 2 von einem „Sommer voll Ungewissheit“, der uns an diesem Tag noch bevorstand. Mir wird erklärt, warum: „So ist der Mensch eben. So sehr er im Kopf nach Abenteuer, Abwechslung, Aufbruch strebt, so sehr will er doch im Herzen ‚Normalität‘: das Vertraute und Berechenbare.“ Aber Corona hat verändert. Auch das lese ich. Die erste Ferienwelle rollt ans Wasser, trübe schaut es jedoch für den Städtetourismus aus. Die Neugierigen aus dem Ausland bleiben aus. Das gilt für jedes Land in Wechselseitigkeit. Die Kreuzfahrtbranche ist unter Druck geraten, die Fliegerei ist auch nicht mehr der Goldesel, der sie doch bis vor Kurzem noch war.
Die Natur genießt es allerdings. Der Dreck des Massentourismus sammelt sich jetzt, geringer geworden, vor der Couch. Man sieht Natur- und Reisefilme im TV, „Verrückt nach Meer“ ersetzt die Kreuzfahrt. Die Welterfahrung verendet im Tourismus ohnehin zu oft in der närrischen Sehnsucht nach der heimischen „Normalität“, nach Sauerbraten, Schnitzel und deutschem Bier in aller Welt. Aber es gibt auch noch andere Sehnsüchte, oberflächlich betrachtet sogar die gleichen. Es gibt zu viele Menschen in dieser Welt, die sehnen sich auch nach der „Normalität“ eines Lebens in Sicherheit, in wenigstens bescheidenem Wohlstand, selbst erarbeitet und deshalb mit Stolz zu genießen. Diese Menschen leben in prekären, zu oft in elenden Umständen. Deshalb begeben sie sich auf „Reisen“. Sie alle folgen Träumen vom besseren Leben, kaum vom Paradies. Sie fahren hinter Verlockungen her; im Zug zur deutschen Fleischindustrie, um zu Hunderten tote Tiere zu zerlegen, in breiige Masse für Wurst zu verwandeln oder in appetitliche Stücke für den romantischen Grillabend in unseren Gärten. Sie kommen, um hier Wohnungen zu bauen, die andere teuer vermieten. Sie kommen, um bei der Ernte zu helfen, sauber zu machen, zu pflegen und manchmal auch ihre Körper für Sex zu verkaufen. Das Geld dafür wird vom Wenigen in Deutschland zu einer verlockenden Größe zu Hause. Da tauscht man das Zuhause auch für ein paar Monate gegen ein Massenquartier, das einen Teil des kargen Lohnes wieder auffrisst und andere reich macht. Der Rest für die wohlfeile Arbeitskraft bringt immer noch etwas, Corona nicht selten inbegriffen.
Aber vielleicht, nein, ganz sicher gibt es noch Schlimmeres! Am 20. Juni war Weltflüchtlingstag. Im Vorjahr waren fast 80 Millionen Menschen in dieser einen Welt auf der Flucht – zu Wasser und zu Land, weniger in der Luft, darunter viele Kinder und Jugendliche, ohne Eltern und Verwandte. Sie versuchen mit unsicheren Booten das Mittelmeer zu überqueren. Und wenn sie nicht ertrunken sind, dann retten sie manchmal selbstlose Helfer*innen. Die Reise ist damit aber nicht glücklich zu Ende. Europa versperrt sich immer wieder. Diese Art der Mobilität ist unerwünscht. Just solche „Reisende“, Menschen grade so wie wir, könnten aber viel über die Unterschiede in der Welt erzählen.
Wer will es hören? Wer will etwas verändern?

(Geschrieben für Links, August/September 2020, 10. Juli 2020)