Von den Wahrheiten

„Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“ Das sagt der alte Stechlin, der Titelheld in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman. Aber was hat es mit diesem Satz für eine Bewandtnis? Er dient gleich am Anfang des Werkes zur Charakterisierung des Hausherren am namensgleichen See. Es geht offensichtlich um die Wahrheit und um ihre Existenz in „Paradoxen“, wie Fontane den Alten sagen lässt. Dem eingangs zitierten Satz geht nämlich unmittelbar voraus: „Paradoxen waren seine Passion. ‚Ich bin nicht klug genug, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn’s andere tun; es ist doch immer was drin.‘“ Die Wahrheit existiert also eher im Paradoxen, denn im unumstößlich Festgestellten. Karl Marx, schreibt seiner Tochter Jenny 1865 ins Poesiealbum, „de omnibus dubitandum“ (an allem ist zu zweifeln). Die Mutter tröstet die Tochter im gleichen Jahr mit dem Eintrag „nil desperandum“ (an nichts muss man verzweifeln). Fontane ist nur anderthalb Jahre jünger als Marx, geboren am 30. Dezember 1819. Gut dreißig Jahre nach Marxens Eintrag in das Album der Tochter legt er unser Ausgangszitat dem Stechlin in den Mund. Der verzweifelt nicht daran, dass die Wahrheit in einer ihr angemessenen Aussage nicht völlig und unanfechtbar enthalten ist. Lenin kann dafür ebenfalls als Zeuge angeführt werden: Jede erreichte Wahrheit hat für ihn stets relativen Charakter in einem dialektischen, wohl unendlichen Prozess der asymptotischen Annäherung an die absolute Wahrheit.
Man muss sich deshalb nicht verzweifelt in einen unentrinnbaren Relativismus versenken. Die Sache mit der Wahrheit ist jedoch auch nichts für einfache Gemüter. Man muss Wahrheit zu finden trachten und zugleich akzeptieren, dass man sie nie ganz finden wird. Für Stechlin ein Ausweg aus Langeweile. Lenin tröstet, dass im Erkenntnisfortschritt jede relativ wahre Aussage einen Teil der Wahrheit erfasst und wir somit immer „tiefere Seiten der absoluten Wahrheit“ erfassen (Wolfgang Röd, Dialektische Philosophie der Neuzeit, München 1986, S141 und vgl. Lenin, Werke, Band 38, S. 212-214). Wie komme ich aber überhaupt darauf? Nicht nur, weil wir demnächst den 200. Geburtstag von Theodor Fontane feiern können. Das auch, denn es hat mich an diesen Stechlin erinnert. Der lebte irgendwie dialektisch. Das 19. Jahrhundert hat ihm vielleicht theoretisch, sicher jedoch praktisch die Dialektik der Wahrheitsfindung eingebläut. Es ist das Jahrhundert der aufwachsenden Wissenschaft, deshalb das Jahrhundert des Zweifels an allem, auch durch Revolutionen und aufkommende Demokratien, das Jahrhundert des Erkenntnisfortschritts in Widersprüchen, weil das Jahrhundert der Einsicht in die Widersprüchlichkeit der Welt. Aus dem 18. Jahrhundert kommt Georg Wilhelm Friedrich Hegel philosophisch-spekulativ damit herein, Marx und Engels verwandeln das in eine Wissenschaft, Lenin trägt es in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, Fontane verarbeitet es am Ende des Jahrhunderts literarisch. Sein Stechlin versucht wacker damit zurecht zu kommen, in der Politik und im persönlich-familiären Leben; bis er stirbt und vieles für ihn offen gelassen zurück bleibt.
Meine Frage nun, wie werden wir diesem Dilemma der Erkenntnis gerecht, wenn wir uns um Wahrheiten streiten? W i r, das muss nicht gleich die gesamte Menschheit sein. Nehmen wir doch bescheiden zunächst nur die Partei DIE LINKE. Der alte Stechlin wurde nicht gleich unglücklich, weil er als konservativer Kandidat eine Nachwahl zum Reichstag gegen einen „Bebelianer“ verloren hatte. Irgendwie war es für ihn auch ein Zeichen, dass sich in der Gesellschaft etwas verändert hatte; verändert auch, weil die Menschen anfingen, systematisch der Welt und ihren Widersprüchen auf den Grund zu gehen. Nun gehen wir doch mal unserer jüngsten Niederlage nach und auf den Grund. Das heißt natürlich, Wahrheit zu suchen, Aber machen wir das selbstgerecht verabsolutierend und spaltend oder machen wir es auf dialektische Art und Weise? Lasst uns die Annäherung an die Wahrheit in jeder begründbaren Aussage akzeptieren. Nehmen wir den Widerspruch nicht als Ausdruck der Feindschaft, sondern als Ansatz zu seiner Auflösung – wohlgemerkt: zu seiner Auflösung in neuer Erkenntnis. Bewerkstelligen wir das miteinander, dann wird es gelingen!

(Geschrieben für Links, November 2019, 12.10.2019)

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