Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben …

Es ist Wilhelm Tell, zum Mord an Gessler bereit, der in Schillers Drama dem friedfertigen Stüssi in dessen Feierlaune eben diesen Satz entgegenhält und ihm mit seiner Warnung, „wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, erst den misstrauischen Sinn gibt. Die Sehnsucht beider sprach zuvor der Stüssi aus: „Ja, wohl dem, der sein Feld bestellt in Ruh, und ungekränkt daheim sitzt bei den Seinen.“ Udo Jürgens konnte sich das wohl vorstellen, wusste aber von einer Realität, die dem Tell recht gab und nicht dem Stüssi: 1974 besang er nach einem Text von Michael Kunze ein „ehrenwertes Haus“, in dem er am Ende nach dem Willen der anderen Bewohner nicht mehr wohnen sollte und schließlich auch nicht mehr wollte. Das Haus war voller Lügen und Intrigen; „ehrenwert“ nur nach außen. Drinnen lebten Gewalt, mehr Hundeliebe als Kinderliebe, Rassismus und Sexismus, Denunziation und Despotismus, Heuchelei. Liebe war nur mit der Versicherungspolizze Trauschein gestattet. Eine bittere Abrechnung mit der Kleinbürgerlichkeit der Gesellschaft bis in ihre Spitzen. Roland Kaiser amüsierte sich auf seine Art über ein solches Haus: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn ihm die schöne Nachbarin gefällt … Ich bin versucht, der Versuchung nachzugeben, wenn nebenan die Sünde wohnt.“ Eindringen in die Gefilde anderer, es ist so alltäglich, und es ist auch im Leben der Völker nebeneinander nicht anders. Das war immer so. Musste das wirklich immer so bleiben?
Michail Gorbatschow war es, der damit Schluss machen wollte. Am 10. April 1987 verkündete er deshalb in Prag zum ersten Mal seine Vision eines friedlichen, ungeteilten Europa, verpackt in die Metapher vom „gemeinsamen Haus Europa“. Die Idee des sowjetischen Staatsmannes weckte 43 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „Hoffnung auf Entspannung, Frieden und Überwindung der machtpolitischen Blöcke.“. Ich zitiere Rolf Bachem und Kathleen Battke, die über diese Metapher und ihre Wirkung in der Zeitschrift MUTTERSPRACHE, Heft 3/1989 auf den Seiten 110 bis 126 nachdachten. Nach beiden ließ die Metapher offen, welches Haus denn gemeint sein könnte oder zustande kommen würde. Sollten es vorgefertigte, langweilig normierte und normierende Wohnblocks sein oder bequeme, weltoffene holländische Landhäuser, mit großen Fenstern, ohne Vorhänge. Vielleicht würden es auch nur britische Reihenhäuser, immerhin gleich für alle einerseits und geeignet, sich nach eigenen Vorstellungen einzurichten, andererseits. Wir hatten die Chance. Heute – 32 Jahre später – können wir über ihre Nutzung abrechnen. Nun, erst glaubte man, die Wohnung der Gorbatschows ausräubern zu können. Ein Trinker hatte sich dort eingenistet. Das kam gelegen. Als dem ein Riegel vorgeschoben wurde, begann die neue Feindschaft. Man verbündete sich gegen den „bösen Nachbar“. Einig war man sich im „ehrenwerten Haus“, die müssen raus. So etwas ist freilich ansteckend. Die mit den großen und gut eingerichteten Wohnungen, machten den Kleinen Angst, holten sich mit Drohungen und Versprechungen, was sie brauchten. Das Misstrauen zwischen allen wuchs. In jeder Wohnung gab es welche, die die Türen verrammeln wollten. Zerstritten ist die Hausgemeinschaft. Einige versuchten sogar mit dem „bösen Nachbar“ heimlich zu paktieren. Der gemeinsame Hausname gilt nicht mehr. Gastfreundschaft ist zu einem Fremdwort geworden. Alles nur mehr zynische Reminiszenzen. Die Macht der Mächtigen wird wohl sesshaft bleiben wollen. Egoismen werden sich jedoch aufbauschen, anbiedern und sich um der Macht der Mächtigen willen gegeneinander hetzen lassen. Das Haus steht da. Das Haus ist in Gefahr. Viele rütteln an seinen Grundfesten. Der Stüssi greift zu kurz. Der Stüssi ist ein Feigling. Wer möglichst nur sein Feld bestellen will und meint, dann könne er ungekränkt daheim sitzen bei den Seinen, der irrt. Solche überhören, wie die Axt an ihre eigene Tür gesetzt und die Wohnung in Gefahr gebracht wird. Mir geht es wie dem Tell mit Gessler: „Ich lebte still und harmlos … Du hast aus meinem Frieden mich heraus geschreckt … Die Milch der frommen Denkart mir verwandelt.“ Dagegen komme ich nicht alleine an. Es ist Enteignen angesagt. Das Haus als Ganzes ist von anderen in Besitz zu nehmen, die Türen sind zu öffnen und Frieden ist zu schließen unter Nachbarn, so dass das Haus endlich allen Nutzen bringt.

(Für Links vorgesehen, Juni 2019, 18. Mai 2019)

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