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Von den Wegen der Erkenntnis

Till Eulenspiegel wusste sich zu helfen und wusste zu helfen. Als er einmal auf eine Gruppe Männer traf, die jammernd im Sand saßen und nicht mehr aufstehen konnten, weil sich ihre Beine hoffnungslos ineinander verheddert hatten, bot er ihnen gegen Belohnung Hilfe an. Die Männer waren einverstanden. Eulenspiegel nahm eine Peitsche, schlug auf die Männer ein, diese sprangen sofort von Schmerz gepeinigt auf und jeder hatte seine beiden Beine wieder. Was der Schmerz macht, kann auch die Angst. Als einst ein Arzt Wege der Heilung für seine Patienten suchte, wusste niemand, wie die Schwerkranken in Bewegung zu setzen wären. Till bot wieder Hilfe an. Er sagte den siech Darniederliegenden, es gäbe eine Möglichkeit, alle zu heilen. Dazu müssten die Kranken ein Wettrennen veranstalten. Der Letzte würde dann verbrannt, um aus seiner Asche das Heilmittel für alle übrigen zu gewinnen. Da sausten aber alle los, denn keiner wollte das Opfer werden. Die Heilung hielt allerdings nicht lange vor. Jegliche Krankheit kam wieder.
Nun, bei Corona geht das derzeit ähnlich. Wer Schmerz verspürt wegen der Erkrankung oder gar des Todes Nahestehender, der oder die hält sich diszipliniert an Hygienevorschriften, die uns die Obrigkeit verordnet. Angst hat den gleichen Effekt. Das ist alles nicht freundlich und medizinisch fragwürdig. Aber es wirkt.
Freilich, es geht auch noch anders. Man muss sich eben nur zu helfen wissen. Ein Beispiel dafür können die allseits bekannten Schildbürger abgeben. Als sie ihre Kirchenglocke vor dem Feind retten und im See versenken wollten, fiel plötzlich einem ein, man müsste doch irgendwie den Ort markieren, wo man sie wieder finden könnte. Es ist nicht überliefert, ob sie dazu verschiedene Möglichkeiten diskutiert haben. Schließlich kam man aber – wahrscheinlich mehrheitlich oder auf besonders guten Rat hörend – überein, eine ganz einfache Lösung zu praktizieren. Man schnitzte ein Kerbe in den Bootsrand, genau an der Stelle, wo das Seil lief, an dem die Glocke in die Tiefe schwebte. Der Erfolg war nicht überwältigend. Die Glocke war verloren. Ähnlich muss es verlaufen sein, als man wegen der vergessenen Fenster das Sonnenlicht in Eimern in das neue Rathaus tragen wollte. In beiden Fällen misslang, was man sich als einfache Lösung ausgedacht hatte. Der Fehler war, dass die gedankliche Klugheit praktisch daran scheiterte, dass man nicht alle bei der Problemlösung wirkenden Faktoren in das Gedankengebäude einschloss. So endet scheinbar Einfaches nicht selten im Desaster. Akribische Analyse der Umstände ersetzt durch Halbwissen brachte die Misserfolge. Solches Vorgehen ist halt einfach und verlockend, wenn man nicht weiß, was man alles nicht weiß. So wurden schon immer 83 Millionen Deutsche oder wenigstens die männliche Hälfte zu unfehlbaren Fußballtrainern oder, wenn Fußball ausfällt, zu beachtlichen Virologen, Hygienikern, Statistikern oder wenigstens unfehlbaren Kritikern aller Wissenschaft und nicht zuletzt ihrer Vertreter*innen in der Professorenschaft. Das hat ebenfalls seine Gründe
Manchmal weiß man einfach nicht, welche Faktoren bei der Lösung eines Problems wirklich zusammengedacht werden müssen. Man hat zu wenig praktische Erfahrung mit der anstehenden Aufgabe. Man hat zu wenig einschlägiges Wissen, das eine belastbare Grundlage für erfolgreiche Überlegungen sein könnte. Guter Rat ist also teuer. Mit dieser Problemlage schlugen sich lange Zeit die Alchimisten herum. Sie suchten den „Stein der Weisen“, der einfache Materie zu Gold machen könnte. Man diskutierte und probierte. Was blieb einem denn sonst auch übrig? Den „Stein der Weisen“ fand man nicht, jedoch so manch Nützliches – Porzellan zum Beispiel oder Schießpulver oder Phosphor. Es geht der Wissenschaft nicht wirklich anders. Sie muss ein ungelöstes Problem der Lösung zuführen, weiß aber noch nicht, was dabei alles zu berücksichtigen ist. Also gehen Probieren und Diskutieren über Studieren. Die Hoffnung dabei ist, ausgehend von vorhandenem Wissen und Erfahrung im Experiment die Lösung zu finden. Natürlich ist das ein bisschen Stochern im Nebel . Attraktiv für ungeduldig Zuschauende ist es auch nicht. Und selbst wenn man einst die Lösung findet, der Weg wird oft mit Häme begleitet. Dennoch! Einen anderen gibt es wohl nicht.

(Geschrieben für Links, Juni 2020, 27.05.2020)

Vom Wenig und dem Vielen

Meine Mutter, 1910 geboren, besuchte in ihrer Jugendzeit in einer Wiener Volkshochschule einen Hauswirtschaftskurs. Dem verdanke ich ein von Hand geschriebenes Koch- und Backbuch, das in der Familie weitergereicht, schon vielen guten Dienst erwiesen hat. Auf der ersten Seite befindet sich eine Weisheit der Lehrerin, Fräulein Pichl: „Viele Wenig ergeben ein Viel.“. Alles akkurat in Sütterlinschrift überliefert, der Sinnspruch und die Rezepte. Es übt im Lesen dieser Schrift und im Kochen und Backen. Fräulein Pichl wusste, wovon sie sprach, davon zeugen die Rezepte. Sie sparen nicht mit Zutaten, sie beschränken jedoch überall die Fülle, insbesondere bei den Gewürzen. Ist man mit dem Buch durch, kennt man viele, weiß aber auch sich zu beschränken, um Geschmack zu schaffen, Überdruss jedoch zu vermeiden.
Mit ihrer Weisheit ist Fräulein Pichl sicher nicht alleine und war es wohl auch nie. Der Volksmund und gescheite Leute vermelden Ähnliches: „Kleinvieh macht auch Mist“, ist vielleicht die einfachste, volkstümlichste Variante. Ein Albert Schweitzer zugesprochener Satz – „Das Wenige, das Du tun kannst, ist viel“ – hebt alles auf eine Ebene menschlichen Handelns und klingt bildungsbürgerlich vornehm. Freilich weiß der Volksmund auch umgekehrt, dass ein Viel oft schädlich sei: „Etwas weniger, wäre mehr gewesen.“
Warum aber gerade fällt mir das jetzt ein? Es fällt mir ein, weil die Weisheit häufig in Vergessenheit geraten zu sein scheint und weil sie vielleicht auch nicht immer stimmt. Nehmen wir zum Beispiel die Europäische Union. Sie ist doch genau betrachtet aus vielen Wenigs zusammengesetzt. Bis auf ein paar Ausnahmen trifft das für die meisten Mitglieder zu. Viele kleine Staaten im Vergleich zu den paar großen Hauptzutaten, könnten die Würze im europäischen Menü sein. In ruhigen Zeiten waren sie es auch; feine, Abwechslung garantierende Geschmacksverstärker über der französisch-deutsch-spanisch-italienische Küche. Dann kamen aber schwere Herausforderungen und viele Köche verdarben mit vielen Zutaten den europäischen Geschmack. Flüchtlinge kamen. Sie kamen von woanders her; von wo der Pfeffer wächst, und man wünschte sie dorthin zurück. Viele Wenig an nationalen Egoismen brachten kein Viel an Gastfreundschaft und Vielfalt der Menschlichkeit. Nein, sie brachten davon leider nur ein noch Weniger. Jedes Wenig wollte nur mehr seine eigene Suppe auslöffeln. Die Vielen blieben außen vor. Die Suppe schmeckt nun schal, aber man weiß, was man hat. Und was der Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht. Volksweisheit hilft immer. Darin lauert in Summe ihre Gefährlichkeit. Gleich und Gleich gesellt sich genau so gerne, wie Gegensätze einander anziehen
„Nicht kleckern, sondern klotzen“, denken jetzt viele von den Wenigen. Das Coronavirus steht vor der Tür. Machen wir unsere Türe zu. Mögen die anderen tun, was sie für richtig halten. Da zerstreut sich das aus vielen Wenig entstandene Viel Europas in ein Klein-Klein, statt gemeinsam die Lösung zu suchen, der man auch noch vielmehr Geschmack abgewinnen könnte. Das Kleinvieh macht Mist im wahrsten Sinn des Wortes. Was für Europa gilt, gilt übrigens auch für Deutschland. Jedes Land, jede Kommune achtet eifersüchtige darauf, den eigenen und möglichst nur den eigenen Senf dazugeben zu können. Fehlt es am unverwechselbaren Senf, muss man doch wenigsten Erster sein. Das macht stolz, und wer es verpasst, spricht plötzlich von Gemeinsamkeit, von Solidarität, verurteilt das „Vorpreschen“ des Wenig vor dem Vielen. Ein Weniger an Sonderberichterstattungen hätte allerdings ein Mehr an Gelassenheit gebracht.
Komme ich zurück zu Albert Schweitzer, den gerade die „Bildungsbürger“ vergessen haben, suche ich vergeblich das Wenige, das, tut man es denn, viel werden kann. Ich denke an die Flüchtlinge, die von der Türkei dahin gejagt vor Griechenland liegen. Nichts wird da mehr getan. Oder doch? Das notwendig Wenige wird zu wenig gewährt: ein dichtes Dach über dem Kopf, eine warme Decke, die Hose und das Kleid, die Blößen bedecken, ein Stück Brot und ein Schluck Wasser. Die das Viele hüten, retten kaum noch jemanden aus den Fluten des Mittelmeeres. Das ohnehin Wenige an Menschlichkeit löst sich im angeblich schützenden Wasser auf. Wir sind auf den Geschmack der Geschmacklosigkeit gekommen.

(Geschrieben für „Links“, April 2020, 23.03.2020)

Sind Einigkeit und Recht und Freiheit schon des Glückes Unterpfand?

Wir befinden uns mittlerweile, dreißig Jahre nach dem Mauerfall im Jahr 2020, jetzt bald dreißig Jahre nach der Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Bei aller zu erwartender Jubelstimmung und bei aller zu erwartender und sicher berechtigter Kritik am Prozess der deutschen Vereinigung, möchte ich noch einen Gedanken darüber hinaus hinzufügen: Deutschland ist in Europa wohl das einzige Land, das seine wiedererlangte Einheit nach 1990 feiern kann. Bei vielen anderen ist es umgekehrt.
Die einstige Führungsmacht der blockfreien Länder, Jugoslawien, ist zerfallen und damit auch die Bewegung und Kraft der Blockfreien. Das einige Deutschland war daran kräftig beteiligt. Die Trümmer des zerfallenen Jugoslawien sind immer noch umstritten und Objekte unterschiedlicher Begierden.
Tschechien und die Slowakei haben sich weitgehend problemlos getrennt. Möglichkeiten der Korruption mit allen ihren Folgen haben sich allerdings eher verdoppelt.
Spanien kämpft mit den Unabhängigkeitsbestrebungen zumindest Kataloniens und des Baskenlandes. Der Ausgang ist nicht gewiss.
Die Sowjetunion gibt es nicht mehr und die Ukraine und Russland befehden sich immer noch um eine für beide Seiten akzeptable, endgültige und bestandsfähige territoriale und politischen Ordnung.
Der multistaatlichen Europäischen Union ist Großbritannien abhanden gekommen.
Ich beende meine Aufzählung. Es gibt vergleichbare, weil zumindest an der Oberfläche ähnliche Fälle in Europa und in der Welt. Hinter allem steht die Frage, welche Rolle Gemeinschaften, ob ethnisch, national oder regional, manchmal auch religiös und/oder kulturell definiert, eine Rolle für die Legitimation von Staaten spielen. Für Europa scheinen mir, ob mit Unabhängigkeitsbewegungen verbunden oder nicht, die Regionen an Bedeutung zu gewinnen. Welche realen emanzipatorischen Potentiale stecken denn in diesen Prozessen? Die Sache ist für Linke mit Rosa Luxemburgs „Nationalitätenfrage und Autonomie“ 1908 in ihrer Komplexität und für damals aktuell und beispielhaft sicher gut erfasst. Das letzte Wort ist aber nach über 100 Jahren noch lange nicht gesprochen.
Es schwelen Konfliktherde, die jederzeit zum Ausbruch kommen können. Sie würden auch den Verlauf globaler Auseinandersetzungen beeinflussen. Zugleich geht alles auch ins täglichen Leben über: Einer kurdischen Mutter will man die Kinder entziehen, weil sie und die Kinder sich auf Demos zur kurdischen Authentizität und deren Symbole bekennen. Unglaublich!
Der langjährige Pressesprecher der sächsischen Landtagsfraktion DIE LINKE, ein gebürtiger Hamburger und in Hamburg auch aufgewachsen, bekennt sich hinwiederum öffentlich zum Sorbentum (vgl. „Neues Deutschland“, 25. 01. 2020, S. 38. Nach sächsischem Sorbengesetz ist er dann auch Sorbe. Niemand tut ihm was. Er spricht die Sprache, weitgehend autodidaktisch erworben, fließend und arbeitet neuerdings als Pressesprecher der Domowina und persönlicher Referent des Vorsitzenden. Er lebt nach eigenem Bekenntnis unbehelligt in Harmonie mit seiner Familie. Herzlichen Glückwunsch! Solche Vorgänge sind heutzutage keine Einzelfälle.
Es ist jedoch im Gegensatz zu den Möglichkeiten solcher „Grenzüberschreitungen“ in neue alltägliche Lebenswelten die Zahl der Mauern und Grenzsperren als konkrete Form der Zurückdrängung individueller Mobilität von elf im Jahr 1989 auf sechzig bis zum heutigen Tag gestiegen (vgl. „Neues Deutschland“, 22.01. 2020, S. 9). Die Welt wird also nicht nur weiträumiger, sondern auch immer mehr parzelliert; zum Schaden für uns alle.
Klimaveränderungen kennen zum Beispiel keine Grenzen. Genau deshalb ist es umso wichtiger zu wissen, wer die Grenzen für Einflussnahme setzt … und wie und warum. „Wanderer zwischen diesen Welten“ werden – kommen sie aus der falschen Weltgegend und als Hilfesuchende – im Normalfall angehalten, abgeschreckt und abgewiesen. Kommen sie über das Mittelmeer, lässt man sie oft mitleidlos und gegen alles Seerecht einfach ersaufen. Erschrocken erkennen wir: Im Mittelmeer wäscht man seine Hände in Unschuld. Genauso erschrocken registrieren wir aber auch, die Meere werden immer wärmer. Wer zählt schon die Toten daraus resultierender Katastrophen?

(Geschrieben für Links, Februar 2020, 23. 01. 2020)