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Vom Wenig und dem Vielen

Meine Mutter, 1910 geboren, besuchte in ihrer Jugendzeit in einer Wiener Volkshochschule einen Hauswirtschaftskurs. Dem verdanke ich ein von Hand geschriebenes Koch- und Backbuch, das in der Familie weitergereicht, schon vielen guten Dienst erwiesen hat. Auf der ersten Seite befindet sich eine Weisheit der Lehrerin, Fräulein Pichl: „Viele Wenig ergeben ein Viel.“. Alles akkurat in Sütterlinschrift überliefert, der Sinnspruch und die Rezepte. Es übt im Lesen dieser Schrift und im Kochen und Backen. Fräulein Pichl wusste, wovon sie sprach, davon zeugen die Rezepte. Sie sparen nicht mit Zutaten, sie beschränken jedoch überall die Fülle, insbesondere bei den Gewürzen. Ist man mit dem Buch durch, kennt man viele, weiß aber auch sich zu beschränken, um Geschmack zu schaffen, Überdruss jedoch zu vermeiden.
Mit ihrer Weisheit ist Fräulein Pichl sicher nicht alleine und war es wohl auch nie. Der Volksmund und gescheite Leute vermelden Ähnliches: „Kleinvieh macht auch Mist“, ist vielleicht die einfachste, volkstümlichste Variante. Ein Albert Schweitzer zugesprochener Satz – „Das Wenige, das Du tun kannst, ist viel“ – hebt alles auf eine Ebene menschlichen Handelns und klingt bildungsbürgerlich vornehm. Freilich weiß der Volksmund auch umgekehrt, dass ein Viel oft schädlich sei: „Etwas weniger, wäre mehr gewesen.“
Warum aber gerade fällt mir das jetzt ein? Es fällt mir ein, weil die Weisheit häufig in Vergessenheit geraten zu sein scheint und weil sie vielleicht auch nicht immer stimmt. Nehmen wir zum Beispiel die Europäische Union. Sie ist doch genau betrachtet aus vielen Wenigs zusammengesetzt. Bis auf ein paar Ausnahmen trifft das für die meisten Mitglieder zu. Viele kleine Staaten im Vergleich zu den paar großen Hauptzutaten, könnten die Würze im europäischen Menü sein. In ruhigen Zeiten waren sie es auch; feine, Abwechslung garantierende Geschmacksverstärker über der französisch-deutsch-spanisch-italienische Küche. Dann kamen aber schwere Herausforderungen und viele Köche verdarben mit vielen Zutaten den europäischen Geschmack. Flüchtlinge kamen. Sie kamen von woanders her; von wo der Pfeffer wächst, und man wünschte sie dorthin zurück. Viele Wenig an nationalen Egoismen brachten kein Viel an Gastfreundschaft und Vielfalt der Menschlichkeit. Nein, sie brachten davon leider nur ein noch Weniger. Jedes Wenig wollte nur mehr seine eigene Suppe auslöffeln. Die Vielen blieben außen vor. Die Suppe schmeckt nun schal, aber man weiß, was man hat. Und was der Bauer nicht kennt, frisst er eben nicht. Volksweisheit hilft immer. Darin lauert in Summe ihre Gefährlichkeit. Gleich und Gleich gesellt sich genau so gerne, wie Gegensätze einander anziehen
„Nicht kleckern, sondern klotzen“, denken jetzt viele von den Wenigen. Das Coronavirus steht vor der Tür. Machen wir unsere Türe zu. Mögen die anderen tun, was sie für richtig halten. Da zerstreut sich das aus vielen Wenig entstandene Viel Europas in ein Klein-Klein, statt gemeinsam die Lösung zu suchen, der man auch noch vielmehr Geschmack abgewinnen könnte. Das Kleinvieh macht Mist im wahrsten Sinn des Wortes. Was für Europa gilt, gilt übrigens auch für Deutschland. Jedes Land, jede Kommune achtet eifersüchtige darauf, den eigenen und möglichst nur den eigenen Senf dazugeben zu können. Fehlt es am unverwechselbaren Senf, muss man doch wenigsten Erster sein. Das macht stolz, und wer es verpasst, spricht plötzlich von Gemeinsamkeit, von Solidarität, verurteilt das „Vorpreschen“ des Wenig vor dem Vielen. Ein Weniger an Sonderberichterstattungen hätte allerdings ein Mehr an Gelassenheit gebracht.
Komme ich zurück zu Albert Schweitzer, den gerade die „Bildungsbürger“ vergessen haben, suche ich vergeblich das Wenige, das, tut man es denn, viel werden kann. Ich denke an die Flüchtlinge, die von der Türkei dahin gejagt vor Griechenland liegen. Nichts wird da mehr getan. Oder doch? Das notwendig Wenige wird zu wenig gewährt: ein dichtes Dach über dem Kopf, eine warme Decke, die Hose und das Kleid, die Blößen bedecken, ein Stück Brot und ein Schluck Wasser. Die das Viele hüten, retten kaum noch jemanden aus den Fluten des Mittelmeeres. Das ohnehin Wenige an Menschlichkeit löst sich im angeblich schützenden Wasser auf. Wir sind auf den Geschmack der Geschmacklosigkeit gekommen.

(Geschrieben für „Links“, April 2020, 23.03.2020)

Sind Einigkeit und Recht und Freiheit schon des Glückes Unterpfand?

Wir befinden uns mittlerweile, dreißig Jahre nach dem Mauerfall im Jahr 2020, jetzt bald dreißig Jahre nach der Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Bei aller zu erwartender Jubelstimmung und bei aller zu erwartender und sicher berechtigter Kritik am Prozess der deutschen Vereinigung, möchte ich noch einen Gedanken darüber hinaus hinzufügen: Deutschland ist in Europa wohl das einzige Land, das seine wiedererlangte Einheit nach 1990 feiern kann. Bei vielen anderen ist es umgekehrt.
Die einstige Führungsmacht der blockfreien Länder, Jugoslawien, ist zerfallen und damit auch die Bewegung und Kraft der Blockfreien. Das einige Deutschland war daran kräftig beteiligt. Die Trümmer des zerfallenen Jugoslawien sind immer noch umstritten und Objekte unterschiedlicher Begierden.
Tschechien und die Slowakei haben sich weitgehend problemlos getrennt. Möglichkeiten der Korruption mit allen ihren Folgen haben sich allerdings eher verdoppelt.
Spanien kämpft mit den Unabhängigkeitsbestrebungen zumindest Kataloniens und des Baskenlandes. Der Ausgang ist nicht gewiss.
Die Sowjetunion gibt es nicht mehr und die Ukraine und Russland befehden sich immer noch um eine für beide Seiten akzeptable, endgültige und bestandsfähige territoriale und politischen Ordnung.
Der multistaatlichen Europäischen Union ist Großbritannien abhanden gekommen.
Ich beende meine Aufzählung. Es gibt vergleichbare, weil zumindest an der Oberfläche ähnliche Fälle in Europa und in der Welt. Hinter allem steht die Frage, welche Rolle Gemeinschaften, ob ethnisch, national oder regional, manchmal auch religiös und/oder kulturell definiert, eine Rolle für die Legitimation von Staaten spielen. Für Europa scheinen mir, ob mit Unabhängigkeitsbewegungen verbunden oder nicht, die Regionen an Bedeutung zu gewinnen. Welche realen emanzipatorischen Potentiale stecken denn in diesen Prozessen? Die Sache ist für Linke mit Rosa Luxemburgs „Nationalitätenfrage und Autonomie“ 1908 in ihrer Komplexität und für damals aktuell und beispielhaft sicher gut erfasst. Das letzte Wort ist aber nach über 100 Jahren noch lange nicht gesprochen.
Es schwelen Konfliktherde, die jederzeit zum Ausbruch kommen können. Sie würden auch den Verlauf globaler Auseinandersetzungen beeinflussen. Zugleich geht alles auch ins täglichen Leben über: Einer kurdischen Mutter will man die Kinder entziehen, weil sie und die Kinder sich auf Demos zur kurdischen Authentizität und deren Symbole bekennen. Unglaublich!
Der langjährige Pressesprecher der sächsischen Landtagsfraktion DIE LINKE, ein gebürtiger Hamburger und in Hamburg auch aufgewachsen, bekennt sich hinwiederum öffentlich zum Sorbentum (vgl. „Neues Deutschland“, 25. 01. 2020, S. 38. Nach sächsischem Sorbengesetz ist er dann auch Sorbe. Niemand tut ihm was. Er spricht die Sprache, weitgehend autodidaktisch erworben, fließend und arbeitet neuerdings als Pressesprecher der Domowina und persönlicher Referent des Vorsitzenden. Er lebt nach eigenem Bekenntnis unbehelligt in Harmonie mit seiner Familie. Herzlichen Glückwunsch! Solche Vorgänge sind heutzutage keine Einzelfälle.
Es ist jedoch im Gegensatz zu den Möglichkeiten solcher „Grenzüberschreitungen“ in neue alltägliche Lebenswelten die Zahl der Mauern und Grenzsperren als konkrete Form der Zurückdrängung individueller Mobilität von elf im Jahr 1989 auf sechzig bis zum heutigen Tag gestiegen (vgl. „Neues Deutschland“, 22.01. 2020, S. 9). Die Welt wird also nicht nur weiträumiger, sondern auch immer mehr parzelliert; zum Schaden für uns alle.
Klimaveränderungen kennen zum Beispiel keine Grenzen. Genau deshalb ist es umso wichtiger zu wissen, wer die Grenzen für Einflussnahme setzt … und wie und warum. „Wanderer zwischen diesen Welten“ werden – kommen sie aus der falschen Weltgegend und als Hilfesuchende – im Normalfall angehalten, abgeschreckt und abgewiesen. Kommen sie über das Mittelmeer, lässt man sie oft mitleidlos und gegen alles Seerecht einfach ersaufen. Erschrocken erkennen wir: Im Mittelmeer wäscht man seine Hände in Unschuld. Genauso erschrocken registrieren wir aber auch, die Meere werden immer wärmer. Wer zählt schon die Toten daraus resultierender Katastrophen?

(Geschrieben für Links, Februar 2020, 23. 01. 2020)

„Das gab’s noch nie …“

sagt die österreichische Kronenzeitung (krone.at, 15.11.2019) – und die ist um Sensationen und Einmaligkeiten nie verlegen. Was war es also, was es noch nie gab? Es war ein Eklat in der US-amerikanischen Footballliga NFL. „Mit Helm auf Schädel eingedroschen“, erfahren wir. Ein Spieler hatte seinem Gegner den obligatorischen Helm vom Kopf gerissen und damit auf den Schädel des nun ungeschützten Mannes eingeschlagen. Der Versuch, sich die Köpfe zerdeppern, gehört wohl zu diesem Spiel. Die Konkurrenten schützen sich jedoch voreinander eben mit Helmen. Diese stellen sozusagen das Unüberschreitbare im Wettbewerb dar. Umso böser ist dann eine Überschreitung, bei der der vermeintliche Schutz noch dazu als Waffe genutzt wird.
Das gab es noch nie? Hat nicht erst unlängst ein Fußballspieler in der deutschen Bundesliga den Trainer der gegnerischen Mannschaft im heftigen Kampf um den Sieg umgerempelt? Der Mann stand dem Spieler im Weg beim Bemühen, den Ball schnell wieder ins Spiel zu bringen, um doch noch siegen zu können. Oder – um dem Gegner doch noch die Niederlage beizubringen. Man könnte es ein taktisches Foul nennen. Solche Fouls sind durchaus üblich. In manchen Sportarten werden sie hart bestraft, in manchen gehören sie, wie der Name ja sagt, zur Taktik und werden in jedem Trainingsbuch empfohlen. Sie sind auf jeden Fall eine Regelüberschreitung, ein Regelbruch. Es gibt das aber, und nicht zu selten, auch anderswo.
„Verkehrsteilnehmer werden immer aggressiver“. Das ist die Überschrift gleich neben der Sportmeldung (krone.at, 15.11.2019): Nach einem Überholmanöver parken zwei Kampfhähne ein, steigen aus und gehen wild aufeinander los. Vergleichbares kann man schnell erleben, wenn man am Straßenverkehr teilnimmt. Auch dort gibt es offensichtlich Konkurrenz und Sieger und Besiegte. Und wo gibt es die eigentlich nicht? Ganze Familien von Nebenbuhlern oder untreu gewordene Partnerinnen werden ausgelöscht, weil wer die „Niederlage“ nicht verträgt. Heimlich werden Abkommen geschlossen, Gelder bezahlt und illegal Vorteile verschafft, um einen Posten zu bekommen, den man sonst nie erlangen würde. Wir leben eben in einer Wettbewerbsgesellschaft. Da zählt am Ende nur der Sieg und schon der zweite Platz wird oft, zu oft als erniedrigend empfunden. Wenn es gar an die Existenz geht, um das bessere Geschäft, die erstrebte Partnerschaft, den Klassenerhalt im Sport, den begehrten Titel, um Geld und eben Erster zu sein, fällt oft, zu oft alle Rücksichtnahme. Die Regeln, die einzuhalten wären, eröffnen dann vielmehr die Chance, doch noch zu gewinnen, indem man sie bricht – rücksichtslos, gnadenlos.
Was lehrt uns das? Der Kapitalismus hat uns offensichtlich alle und überall in einen Wettbewerbsmodus versetzt. Es gibt kein Miteinander. Gepflegt wird das Gegeneinander. Miteinander ist nur so lange erwünscht, so lange es dem Sieg dient. Die Mannschaften im Sport halten zusammen. „Ihr müsst elf Freunde sein“, ist dann die Losung im Fußball; oder war es einst. Heute muss man auch in den Mannschaften möglichst der Beste sein, irgendwie herausragen. Es geht um den Marktwert. Die Tragödie ist jedoch mittlerweile, dass sich der Siegeswille so verselbstständigt hat, dass der Spielgedanke, der doch den Sport prägen sollte, dahinter bereits verloren gegangen ist. Dann streckt man auch schon mal in der 5. Unterliga beim Wochenendvergnügen den Schiedsrichter mit einem Faustschlag nieder. Man vergisst, dass der vermeintlich Gegner doch auch Partner ist. Ohne ihn kann man nicht spielen. Man schaltet ihn jedoch lieber aus, um Sieger zu sein. Das fördert Gewalt und die hat sich ausgebreitet als die einfachste Methode, Überlegenheit zu zeigen und zu sichern. Es geht wild zu zwischen den Staaten, auf der Straße, auf dem Sportplatz, in der Wirtschaft, zwischen den Parteien, in den Parteien … Gemeinsamkeiten wurden zu begrenzten Mitteln zum Zweck und jederzeit auflösbar. Sie sind leider nicht mehr der Zweck selbst, nicht das eigentliche Ziel. So wird auch die Sprache aggressiv. Die AfD hat es fast schon (wieder) zur Perfektion gebracht.

Doch es wird Weihnachten: „Friede den Menschen auf Erden“, schallt es allenthalben. Ja, „wenn sie guten Willens sind!“ Sonst hilft auch kein Gott.

(Geschrieben für Links, Dezember 2019, 15.11.2019)