Leitkultur oder Multikulti – Subkultur oder Parallelgesellschaft – Herrschaft oder Akzeptanz?

Gekonnt dialektisch gedacht macht uns Karl Marx auf eine wesentliche Leistung von Sprache aufmerksam: „Die Sprache selbst ist ebenso das Product eines Gemeinwesens, wie sie in andrer Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens, und das selbstredende Dasein desselben.“ Und er fügt kurz danach an: „In dem Akt der Reproduction selbst ändern sich nicht nur die objektiven Bedingungen, z. B. aus dem Dorf wird Stadt, aus der Wildniß gelichteter Acker etc, sondern die Producenten ändern sich, indem sie neue Qualitäten aus sich heraus setzen, sich selbst durch die Production entwickeln, umgestalten, neue Kräfte und neue Vorstellungen bilden, neue Verkehrsweisen, neue Bedürfnisse und neue Sprache.“ (Marx, Karl, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: MEGA➁ II/1, 2., unveränd. Aufl. , Berlin 2006, S. 394 u. 398 (MEW, Bd. 42, Berlin 1983, S. 398 u. 402).)

„Neue Sprache“ heißt dann auch, dass eben jene Veränderungen sich als Prozesse in Sprache „als selbstredendes Dasein“ des Gemeinwesens äußern müssen. Dass damit nicht nur eine einfache Reaktion der Sprache oder ein trivialer Reflex von Sprache auf Veränderung gemeint sein kann, sondern die ganze Dialektik der Gesellschaftlichkeit sich auch in Sprache wiederfindet, ist anzunehmen. Wir sind gerade Zeugen eines solchen Vorganges. Ich möchte ihn hier für sich in seiner aktuellen Bedeutsamkeit und zugleich als Beispiel für die Richtigkeit der Marx’schen Thesen analysieren.

Marcel Braumann, Domowina-Präsidiumsmitglied, wird in der „Lausitzer Rundschau“ mit dem Satz zitiert: „Uns geht es aber darum, unsere sorbische Parallelgesellschaft weiter zu pflegen.“ (Lausitzer Rundschau,
14.12.2015, S. 19) Offensichtlich ist die Intention, mit der Verwendung des Wortes „Parallelgesellschaft“ zu provozieren und darauf aufmerksam zu machen, dass ein neues Wort – nämlich „Parallelgesellschaft“ – durchaus auf ein altes Phänomen – nämlich das Leben der sorbischen Minderheit in der Lausitz und ihre heutigen Probleme – angewendet werden kann. Worin besteht aber dann die Provokation?

Sie besteht darin, dass mit dem Wort der Bezug zu den neuen Verwendungskontexten, in dem es entstanden ist, hergestellt wird. Es sind die Diskurse um die aktuelle, so genannte Flüchtlingsproblematik. Es sind die Diskurse um Fragen der Integration massenhaft neu Hinzugekommener und Hinzukommender in unserer Gesellschaft. Es geht um Fragen der Möglichkeiten von Integration, ihrer Notwendigkeit und ihrer Legitimation. Was hat dies alles aber mit den Sorben zu tun? Für die Antwort muss ich jetzt weiter ausholen.

Das Wort „Parallelgesellschaft“ ist in der 4. Auflage DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2001 noch gar nicht verzeichnet. In der 7. Auflage (2011) finden wir es, in seiner Bedeutung folgendermaßen definiert: „von einer Minderheit gebildete, in einem Land neben der Gesellschaft der Mehrheit existierende Gesellschaft.“ So finden wir es auch in der 8. Auflage, 2015. In der Schulausgabe des Österreichischen Wörterbuches (42. Auflage, Wien 2012) finden wir für „Parallelgesellschaft“, „organisierte eigene gesellschaftliche Struktur (einer Minderheit), Subkultur“. In allen früheren Ausgaben war es noch nicht verzeichnet.

Man kann kaum leugnen, dass das Wort mit diesen Bedeutungsdefinitionen auch auf Sorben anwendbar ist. Dennoch wurde das Jahrhunderte lang nicht gemacht. Das Wort wurde wegen der Sorben so wenig „erfunden“ wie wegen anderer ethnisch-kultureller Minderheiten, seien sie autochthon oder nicht. Was machte es also in den genannten aktuellen Kontexten nötig und welche Spezifik gewinnt es daraus? Bei WIKIPEDIA finden wir: „Parallelgesellschaft ist ein politischer Begriff, der eine nicht den wahrgenommenen Regeln und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft entsprechende, von dieser mitunter als ablehnend empfundene gesellschaftliche Selbstorganisation einer Minderheit beschreibt. Der Begriff überschneidet sich in seinem Bedeutungsinhalt mit Gegenkultur und Subkultur.“ Gilt für die Minderheit der Sorben zumindest juristisch derzeit nicht, dass sie als „ablehnend“ empfunden werden, so war das in ihrer Geschichte und ist es in mancher aktuellen Debatte beileibe nicht so.

WIKIPEDIA und das Österreichische Wörterbuch geben uns den Hinweis auf die Überschneidung mit „Subkultur“. Das DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch bestimmt die Bedeutung des Wortes mit: „innerhalb einer Gesellschaft bestehende, von einer bestimmten gesellschaftlichen, ethnischen o.ä. Gruppe getragene Kultur mit eigenen Normen und Werten.“ (DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch, Mannheim 2015, 8. Auflage) Das Österreichische Wörterbuch sagt dazu: „abweichende Kultur- und Lebensformen bestimmter Gruppen der Gesellschaft“.

„Innerhalb einer Gesellschaft“, „bestimmte Gruppen der Gesellschaft“, darin liegt offensichtlich des Rätsels Lösung. Eigentlich liegt sie schon in der Bedeutungsopposition des Präfixes „sub-“ und des Wortteiles „parallel“. „Sub-“ „bedeutet in Bildungen mit Substantiven, Adjektiven und Verben unter, sich unterhalb befindend, niedriger als … (in räumlicher und hierarchischer Hinsicht)“ (ebenda). „Parallel“ heißt „in gleicher Richtung u. in gleichem Abstand neben etw. anderem verlaufend, an allen Stellen in gleichem Abstand nebeneinander [befindlich]“ (ebenda).

Demnach haben „Parallelgesellschaften“ keine Berührung miteinander, „Subkulturen“ sind jedoch einer Übergeordneten Gesellschaft nicht nur zu-, sondern auch untergeordnet. „Subkultur“ ist integriert, „Parallelgesellschaft“ nicht, wenn man unter „Integration“, „die Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (ebenda) versteht. Folgerichtig bietet das DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch als Verwendungsbeispiel den Satz, „die I. der hier lebenden Ausländer ist nach wie vor ein dringendes Problem.“ (ebenda)

Denkt man an dieser Stelle weiter, kommen Wörter wie „Leitkultur“ oder „Dominanzkultur“ ins Blickfeld, aber z.B. auch „Mehrheitsgesellschaft“. Diese Wörter begegnen uns in den aktuellen Debatten um Flüchtlinge und Asylsuchende ständig, so wie „Integration“ und „Parallelgesellschaft“ – meist in enger Verbindung miteinander. Festzustellen ist wiederum, dass „Leitkultur“ im DUDEN – UWB 2001 noch gar nicht zu finden ist; in der 7. Auflage 2011 wird sie als „führende, zentrale Kultur“ definiert, ebenso in der 8. Auflage als … Es ist ein junges Wort, auch wenn sich das benannte Phänomen schon lange mit Macht gebärdet. Das Österreichische Wörterbuch (2012) spricht von der „Kultur der Mehrheitsbevölkerung eines Landes (oft als Anspruch missverstanden)“ (vgl.a.a.O.) „Dominanzkultur“ war in keinem der hier zitierten Wörterbücher zu finden.
Weil „Parallelgesellschaften“ der „Leitkultur“ bzw. „Dominanzkultur“ als nicht „subordiniert“ gelten, werden sie von konservativer und rechter Politik abgelehnt, als gefährlich empfunden. Das Österreichische Wörterbuch weist zumindest in Klammern auf die Problematik eines solchen Verhaltens hin. An der weitgehenden politischen Ablehnung von „Parallelgesellschaften“ ändert das nichts. Damit sind wir aber bei des Pudels Kern: Wenn „Subkulturen“ einer „Leitkultur“ untergeordnet sind, haben sie sich einer Macht gebeugt bzw. hat sie eine Macht gebeugt. Sie unterliegen (zumindest partiell) fremder Herrschaft. Für Sorben trifft das wohl in der hier ausreichenden Allgemeinheit zu. Nach Lage der Dinge muss dies nicht immer Macht und Herrschaft einer Mehrheit sein. In Deutschland und für die Sorben zumal ist es aber wohl der Fall. Sie sind in vielen Dingen von der Mehrheitsgesellschaft abhängig, vor allem von deren Geld, das sie für den Erhalt der kulturellen Autonomie und insbesondere für den Erhalt der Sprache brauchen. Braumann moniert z.B., dass für den Spracherhalt ein Modell umgesetzt wird, das eigentlich für westdeutsche Migrationsmilieus entwickelt wurde, weshalb es für das Sorbische nicht problemlos funktioniert.

Die „Unterwerfung“ trifft für „Parallegesellschaften“ per definitionem zunächst nicht zu. Das ist für Macht gefährlich. Zumindest nimmt sie das an. Ist es aber wirklich und speziell für die Kultur der Mächtigen gefährlich? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Es kann doch niemand sagen, dass sich gerade parallel zueinander stehende Konstanten, parallel verlaufende Lebensweisen gegenseitig gefährden. Sie könnten sich akzeptieren und ansonsten in Ruhe lassen. Die Gefährdung tritt erst ein, wenn „Macht“ bzw. Anspruch auf „Herrschaft“ einer Seite in Richtung der anderen ins Spiel kommen. Dann will die eine Kultur die andere „integrieren“ im Sinne einer Unterordnung. Sie will ihre Regeln zu den übergeordneten machen, oder die andere zerstören. „Akzeptanz“ des „Anderen“ wird abgebaut, kommt gar nicht zum Zuge. Das „Andere“ wird zum gefährlichen „Fremden“. Jetzt wird „Parallelkultur“ zur „Gegenkultur“. Sie wird zur „Kultur einer Gruppe in einer Gesellschaft, die deren Kultur in bestimmten Teilen ablehnt u. dafür eigene Normen u. Werte setzt.“ (DUDEN – Deutsches Universalwörterbuch, 2015) Für die Gesellschaft wird eine solche Kultur zum „Feind“ und sie wird als solcher mit „Gegenkultur“ und „Parallelkultur“ sprachlich markiert. Solche „Feinde“ gab es auch früher – z.B. die „Juden“, die „Zigeuner“. Das Wort „Parallelkultur“ kommt uns harmlos daher und ersetzt doch nur als Kampfbegriffe unbrauchbar gewordene Wörter wie „Antisemitismus“ oder „Antiziganismus“.

Liegen dem – wie oft behauptet – „Angst“ oder „Besorgnis“ zugrunde, so verwandeln sich „Angst“ und „Besorgnis“ in Repression. Die Gesellschaft hat dazu ausreichend Möglichkeiten und nutzt sie auch, weil die definitorische Parallelität keine faktische ist. Warum eigentlich? „Angst“ und „Besorgnis“ könnten sich doch auch in Neugierde, Verstehen und Akzeptieren verwandeln. Genau das wäre der Anfang, den Prozess einer „Evolution der Integration“ zu initiieren, einer Evolution, die beide „Parallelen“ betrifft. So weit unsere Kultur eine Subkultur der Kultur der Menschenrechte, Toleranz, Gleichstellung, sozialer Gerechtigkeit und Demokratie ist, brauchen wir sie nicht ängstlich zu schützen. Sie wird ihre Attraktivität unter Beweis stellen, wenn wir sie niemandem verwehren. „Herrschaft“ hat jedoch ein anderes Ziel. Andreas Scheuer, Generalsekretär der CSU, meint: „Die Neuankömmlinge aus anderen Kulturkreisen müssen akzeptieren, dass die deutsche Leitkultur tonangebend und für ihr weiteres Leben in Deutschland der Maßstab ist.“ Integration könne nicht bedeuten, „dass sich die einheimische Bevölkerung und die Flüchtlinge auf halbem Weg treffen und daraus eine neue Leitkultur entsteht … Es gibt bei der Leitkultur nur eine Richtung: unsere Werte akzeptieren.“ (Passauer Neue Presse, 10.10.2015) Hier schlägt Neuankommenden nur kalte Macht entgegen, nicht ein Quentchen Akzeptanz, nur Ausgrenzung. Es ist zugleich das, was Balibar und Wallenstein einen „Rassismus ohne Rassen“ nennen: „Ideologisch gehört der gegenwärtige Rassismus in den Zusammenhang eines ‚Rassismus ohne Rassen‘, […] eines Rassismus, der – jedenfalls auf den ersten Blick – nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über andere postuliert, sondern sich darauf beschränkt, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweise und Traditionen zu behaupten.“ (Etienne Balibar/Immanuel Wallerstein: Rasse Klasse Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg 1990, S. 28) Adorno meint treffend: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“ (Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr, in: Gesammelte Schriften Band 9/2, Frankfurt/Main 19759 Das befördert übrigens Ab- und Ausgrenzung auf beiden Seiten der Parallelen, mit fatalen Folgen.
Jetzt ist auch klar, warum „Leitkultur“ kein „Multikulti“ bzw., mit dem Langwort ausgedrückt, keine „Multikuturalität“ duldet. Diese bedeutet „das Vorhandensein von Einflüssen mehrerer Kulturen; kulturelle Vielfalt“. Als Verwendungsbeispiel finde ich, „ein Aufruf zu Toleranz und M.“ Wenigstens die DUDEN-Redaktion hat Einsicht. CDU/CSU, AfD und Pegida-Schreierinnen und Schreier folgen diesem Aufruf leider nicht. Herrschaft geht vor Akzeptanz. Die Sprache bringt es zutage: Sie tritt uns tatsächlich als ein „Produkt“ und zugleich „selbstredendes Dasein der Gesellschaft“ entgegen. Ich glaube nicht, dass wir dabei gut wegkommen.

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