Wie christlich ist das Abendland?

Gegenfrage: Muss es denn überhaupt christlich sein? Wenn man die Bezeichnung Abendland nur aus dem westlichen Sonnenuntergang herleitet und ihm das Morgenland einzig als die östliche Gegend des Sonnenaufgangs gegenüberstellt, ist diese Frage leicht zu beantworten. Das Abendland muss nicht christlich sein! Morgenland und Abendland sind jedoch mehr – sie sind kulturelle Konzepte. Deshalb findet man in fast allen Ausführungen zum Abendland das Attribut „christlich“. Es ist nicht das einzige. Ergänzt wird es verschiedentlich durch „germanisch“, „römisch“, „jüdisch“ oder „christlich-jüdisch“. Als herausgehobene Charakteristik bleibt aber immer das „Christliche“ dieses Abendlandes. Dadurch erscheint es so manchem und mancher offensichtlich kulturell überlegen. Das treibt Leute um, sich auf der Grundlage eines sich selbst zugeschriebenen, wachsamen „europäischen Patriotismus“ gegen die angeblich drohende „Islamisierung“ ihres Abendlandes zu wenden. Also bleiben wir bei der Frage des Titels!
Die Antwort werden wir nicht in Statistiken der Religionszugehörigkeit finden. Das christliche Abendland definiert sich nicht über die verschiedenen christlichen Kirchen und die Anzahl der Gläubigen. Es verstehen sich seine Apologeten vielmehr als kulturelle Gemeinschaft, die durch Werte begründet ist, die dem Christentum und seinen Traditionen entspringen, unabhängig von Bekenntnissen und Glaube. Ich will jetzt nicht beckmesserisch fragen, ob ein großer Teil dieser Werte nicht allgemein-menschlich sind. Die Weltliches betreffenden Gebote der bekannten zehn jüdisch-christlichen findet man wohl in fast allen Kulturen und Bekenntnissen. Da geht es um den Respekt der Nachkommen vor den Vorfahren, um Schutz des Lebens vor Gewalt, um kontrollierte Sexualität, um Eigentum und Wahrheit. Schön wäre es, wenigstens das christliche Abendland hätte sich daran gehalten. Es hat mit seinen Kriegen das Tötungsverbot oder das Verbot sich fremdes Eigentum anzueignen stets ignoriert. Man hat sich nicht nur fremden Besitz angeeignet, sondern auch fremde Menschen. Das ist sehr römisch, aber wenig christlich. Es gab Zeiten, da überquerten Schiffe von Afrika kommend die Weltmeere, mit menschlicher Ware in den Laderäumen, und die Fracht war willkommen als billigste und rechtlose Arbeitskraft. Menschenwürde, jeder Mensch als Gottes Ebenbild, wie es das Christentum versteht, galt nichts. Noch zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wurden afrikanische Familien in abendländischen Zoos als Attraktion ausgestellt. Aber das gibt es heute alles nicht mehr – sagt man. Die klassische Sklaverei ist längst abgeschafft. Die Würde des Menschen ist unantastbar, legen europäische Verfassungen fest. Vor dem Gesetz sind alle gleich, wie im Christentum vor Gott. Das alles sind Fortschritte.
Ich bin kein Pastor, ich will hier keine Bibellehre veranstalten. Dennoch, es treibt auch mich ungläubigen, aber zwangsläufigen Abendländer etwas um: Das sind Sätze aus dem Evangelium von Matthäus; dort nachzulesen im Kapitel 25, Verse 31 – 46. Matthäus spricht vom Weltgericht, bei dem endgültig die „Schafe von den Böcken“ geschieden werden. Den Schafen wird der Himmel zu Besitz gegeben. Die Böcke aber fallen der ewigen Verderbnis anheim. Warum? Von den Schafen behauptet der richtende „Menschensohn“, sie hätten ihm zu essen gegeben, als er hungrig war, zu trinken, als er durstig war, ihn aufgenommen, als er fremd und ohne Obdach war usw. Alles erdenklich Barmherzige war ihm, dem Göttlichen durch die Schafe, durch die Gerechten zuteil geworden. Die wundern sich jedoch und erwidern, sie könnten sich nicht erinnern, den Menschensohn je so gut behandelt zu haben. Dieser räumt das auch ein. Er selbst war nicht der Nutznießer der Barmherzigkeit, aber sie hätten andere so gut behandelt. Der Schlüsselsatz: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Die Antwort auf die Frage, wie dieses „christliche Abendland“ mit den Hungrigen, Fremden, Nackten, Durstigen, Kranken, Gefangenen dieser Welt umgeht, ob es solche gar selbst zu verantworten hat oder nicht, ist die Antwort auf die Frage, wie christlich das Abendland denn nun wirklich ist.

(Geschrieben für Links, Juni 2015, 19.05.2015)

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