Vom Leben nach dem Mai

Ein Mensch, in der Mitte Europas geboren und in dieser Mitte lebend, wurde vor kurzem 70 Jahre alt. Als er zur Welt kam, war der 2. Weltkrieg ins Land der Verursacher zurückgekehrt. Die Geburt vollzog sich in einem Luftschutzkeller. Die Befreiung Deutschlands von der faschistischen Mörderbande und eigener Verblendung schritt voran. Am 8. Mai 1945 war es endgültig so weit. Daran hat der Siebzigjährige naturgemäß keine Erinnerung. Woran er sich freilich erinnert, sind die Folgen des Krieges und der Bombardements: zerstörte Städte, Ruinen als Spielplätze, Kinder ohne Väter, Kriegsversehrte, Lebensmittelkarten … „Nie wieder Krieg“ sollte sein.

Nicht viel später erlebte der Mensch eine geteilte Welt. Da Sozialismus-Ost, hier Kapitalismus-West. Sie standen sich bald unversöhnlich gegenüber. Aber es hielt auch ein Frieden, der viele Möglichkeiten eröffnete. Hüben wie drüben, Menschen konnten zur Schule gehen, konnten lernen, konnten was werden. Der Mensch, von dem die Rede ist, konnte frei lieben und setzte Kinder in die Welt, die ihn längst mit Kindeskindern beglückten. Der Mensch lebt in seinem 71. Jahr und kennt den Krieg doch nur aus Erzählungen – Erzählungen von früher oder aus sicherer Ferne. Der Mensch hat über 70 Jahre ein Leben gelebt, von dem zuvor in Europa Menschen nur träumen konnten. Freilich hätte es für ihn auch in diesen Jahren und anderswo schlimmer kommen können. Er hat als Kind verwundert Aufschriften an Hauswänden zur Kenntnis genommen: „Hände weg von Korea“. Als Student protestierte er gegen den Vietnamkrieg. Er lief untergehakt mit anderen in den Straßen einer so genannten Frontstadt, skandierte dabei „Ho, Ho Ho Tschi Minh“. Der Mensch hatte hin und wieder auch Angst vor Krieg: Suez-Krise, Kuba-Krise, U-2 Abschuss, Einmarsch sowjetischer Soldaten in Afghanistan. Er selbst marschierte auch – immer zu Ostern, gegen Atomversuche und neue Raketen. Ungarn 1956 verunsicherte den Heranwachsenden, 1968 war der Mensch, nun schon erwachsen, so nahe an der Krise dran, wie nie zuvor. Über Prag war er in die DDR gereist, über die BRD musst er zurückfahren. Durch die Stadt im Osten, in der er sich zeitweilig aufhielt, fuhren Panzer und Militärfahrzeuge, in der Luft knallten die Überschallflugzeuge – und dann war es plötzlich ganz still, furchterregend still.

Die Welt musste dennoch vernünftig bleiben, denn das Auskommen miteinander war abgesichert durch Vernichtungspotentiale, die so schrecklich waren, dass sie wahrscheinlich wirklich niemand in Aktion bringen wollte. Die Gefahr der Vernichtung allen Lebens war trotzdem nie gebannt. Schwäche durfte keiner zeigen. Und dann war es
doch so weit.

Vor 25 Jahren fielt unverhofft die Mauer in der Frontstadt. Der eine Block kollabierte – und der andere zeigte sein wahres Gesicht. Die Welt schien plötzlich ihm allein zu gehören. Der Kapitalismus konnte wieder weitgehend ungehindert funktionieren. Er begann sich zu unterwerfen, was sich ihm lange verweigert hatte. Deshalb finden auch wieder Kriege statt: Es finden „heiße Kriege“ statt und es finden neue „Kalte Kriege“ statt. Die Bundeswehr ist einsatztauglich. Der hinderliche „Bürger in Uniform“ wurde aussortiert. Den Profis kommt das Heer familientauglich entgegen. In dessen Kitas wird man bald neue Märchen erzählen: „Morgens schieß‘ ich, mittags bomb‘ ich und nachmittags hole ich mein Kind“. Es finden die Kriege der Paläste gegen die Hütten statt – soziale Kriege im Inneren der Kernländer des Kapitals und gegen die Peripherie. Die Folgen sind neue Armut überall. Stammtische, die sich für das Volk halten, erzählen mittlerweile die Mär von den Wirtschaftsflüchtlingen und Sozialschmarotzern. „Wer betrügt, der fliegt“, das ist fatale Poesie, nicht fern der Art, „Jeder Schuss ein Russ“. Wo die Stammtische Asylantenflut wittern, helfen auch mal die Fluten des Mittelmeers.

Ich bin 70 Jahre und habe Angst! Ich habe Angst, dass meine Kinder und Enkel ein Leben erwarten könnte, welches ich nur aus den Erzählungen meiner Eltern und Großeltern kenne. Das zu verhindern, bin ich meinem Leben nach dem Mai schuldig!

(Geschrieben für DISPUT, April 2015)

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