Die Hasen und die Igel

Es ist Freitag, der 20. September, und bereits abends. Ein langer, schöner Tag neigt sich zu Ende, knapp vor Herbstanfang, mit einem herrlichen Abendrot, das einen sonnigen nächsten Tag verspricht. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe diese Glosse.
Der Tag war lang, weil ich um 9:30 einen Termin in Dresden wahrnehmen musste; Fahrzeit eine knappe Stunde – also spätestens 8:00 Uhr los, aufstehen halb sieben. Kann ja etwas dazwischen kommen. Vor Staus ist man nie gefeit. Hin blieb er mir erspart, zurück war er da. Rechtzeitig ausgewichen, weil durch das Radio gewarnt, gelang mir die Rückfahrt – über vier Umleitungen und zwei lange Aufenthalte vor Ampeln, die wegen Baustellen verengte Fahrbahnen wechselweise frei gaben – in gut zwei Stunden.
Ja, die Fahrt wurde mit dem Auto angetreten. Mit Öffis wäre der Termin nicht zu halten gewesen: Erst drei Kilometer zum nächsten Bahnhof. Von da fährt jede Stunde ein Zug nach Leipzig. Kommt man dort an, fährt der Zug nach Dresden just im gleichen Augenblick weg. Nach einer halben Stunde geht es dann weiter. In Dresden noch Straßenbahn. Wann soll ich da aufstehen, um alles zu schaffen? „Sei nicht so empfindlich“, denke ich. Im Radio höre ich nämlich gerade, dass das GroKo-Bundeskabinett die ganze Nacht „getagt“ hat und immer noch tagt, um die Hausaufgabe eines Klimaschutzprogrammes zum Ende zu bringen. Das erinnert mich an meine Schulzeit – nächtliches Erledigen von Hausaufgaben bringt Fehlerhaftigkeit des Resultats. „Friday for future“ ist der Tag auch noch. Sicher sammeln sich schon allüberall die Schüler*innen und von diesen aufgeweckte Erwachsene zur Fahrt in die großen Städte zur Demo für die Klimarettung. In anderen Teilen der Erde sind sie schon längst auf den Beinen. In Australien und Polynesien ist schon alles wieder fast vorbei. In Frankfurt am Main erwacht indessen der vorletzte Tag der Internationalen Automobilausstellung. Den Zugang in die Hallen haben am ersten Tag Demonstrant*innen blockiert. Wer hinein wollte, musste den Hinterausgang benutzen. Beim Frühstück kann ich schon das zeitig angelieferte „Neue Deutschland“ lesen, mit einem Extrablatt zum FfF-Klimastreik. Am Ende des Tages sticht das Schiff „Polarstern“ von Norwegen aus in See Es soll ein Jahr lang im Eis festgefroren triftend (eine sehr umweltfreundliche, aber nicht verallgemeinerbare Art der Mobilität) das arktische Klima erkunden. Und der Regenwald in Südamerika brennt immer noch.
Pünktlich war ich auf die unweite Autobahn aufgefahren und habe mich eingereiht. Das ging gar nicht so einfach, denn auf der rechten Spur bewegte sich eine unendliche, dicht auf dicht fahrende Kolonne von Lkws und links eine ebensolche Schlange von Pkws und kleineren Transportfahrzeugen. Sich da hineinzuschlängeln musste man erst schaffen. Mit Bremse, Gas, Hupe, Übermut und auch etwas Rücksichtslosigkeit war es geglückt. Jetzt war man Teil der Karawane. Fast Stoßstange an Stoßstange bewegte sich auf beiden Spuren der Tross. Die Fahrt verlief jedoch, wie bereits gesagt, ohne Zwischenfälle, dauerte keine ganze Stunde und endete sogar etwas zu früh am Zielort.
Dennoch war Zeit zum Beobachten und Nachdenken. Was bewegte sich eigentlich auf diesem Betonband und wodurch bewegte es sich? So kam plötzlich die Erkenntnis: Ich fuhr an Tausenden brennenden Arbeitsplätzen vorbei. Die befanden sich in den Lkws und sie befanden sich in den Autos vor und hinter mir. Die dagegen anrennen sind die Hasen, kam mir in den Sinn. Sie rennen hinter den Igeln her. Die rufen aber überall, „Ick bin allhier“. Genau dagegen wurde ja am gleichen Tag demonstriert, genau deshalb tagte nächtens die GroKo. Wer wird dieses Rennen gewinnen, war plötzlich die Frage des Tages? Werden die Hasen, so wie im Märchen, eines Tages wegen des nicht zu gewinnenden Wettbewerbs tot umfallen? Oder geben die Igel auf, weil ihnen die Hasen etwas Neues als Ersatz für dieses sinnlose Wettrennen anbieten – mit Gewinn für beide Seiten? Das Märchen beginnt im Original mit dem niederdeutschen Satz: „Disse Geschichte ist lögenhaft to vertellen.“ Das ist der Anfang für die AfD und Konsorten. Die glauben nicht an die drohende Tragödie. Wir wissen jedoch, uns rettet nicht das schöne Wetter des Märchens und dieses 20. Septembers. Wetter an ein paar Tagen ist nicht Klima. Es muss uns etwas einfallen – Für Klima und Arbeitsplätze.

(Geschrieben für Links, Oktober 2019, 22.09.2019)

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