Der Morgen danach

Die Nacht war lang. Der Schlaf war unruhig. Europa war nach rechts gerückt. Deutschland war grün geworden, Europa ebenso, aber alles auch brauner. Zeitig begrüßte mich der Morgen mit dem vorläufigen Wahlergebnis in Leipzig – für die Europawahl und für die Kommunalwahl. Der Unterschied zwischen den beiden Wahlergebnissen konnte nicht größer sein und nicht symptomatischer für die Situation unserer Partei: Im Stadtrat sollte DIE LINKE stärkste Partei werden, die Grünen auf dem zweiten Platz, dann die CDU und die AfD erst Vierter.
Mag sein, es hat sich noch etwas geändert. Der Unterschied zum Ergebnis der Wahl zum Europaparlament war deutlich und ist es sicher auch geblieben: Diese Wahl gewannen in Leipzig die GRÜNEN vor CDU und AfD. Für DIE LINKE blieb hier nur der vierte Platz. Ich tippte meine erste Reaktion unter diese Wahlergebnisse in facebook. „Für die ‚großen‘ Fragen sind offenbar andere zuständig, wir sollen die vielen ‚kleinen‘ Sorgen, die in Summe den Alltag beschwerlich machen, lösen. Die Dinge hängen doch zusammen. Wie können wir das deutlich machen?“ Wir haben tapfer gekämpft und nichts von den Gemeinheiten ausgelassen, die uns der Kapitalismus so alltäglich beschert – wachsende Armut und wachsender Reichtum, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, Pflegenotstand, abgehängter Osten, die Geschlechterfrage, Krieg und Frieden, damit verbundene Fluchtursachen und das für uns wichtige „Refugees welcome“ und noch und noch. Ich bin stolz darauf. Wir kennen die Welt und ihre Verästelungen bis in unseren Alltag. Hat es was gebracht? Für Europa im Bund und im Land herbe Verluste, in den Kommunen viel erfreuliche Gewinne. Die beiden Sieger für Europa haben etwas anders gemacht als wir: Sie haben die Vielfalt der Symptome beschwerlichen Lebens im Kapitalismus jeweils reduziert auf ein bis zwei Hauptthemen, denen dann alles andere zugeordnet wurde. Die GRÜNEN griffen die Klimakatastrophe auf, gingen damit auf die Wurzeln ihrer Partei zurück, waren dadurch authentisch und glaubwürdig und gewannen so vor allem massenhaft Jugendliche, die ja gerade das Thema auf der Straße eindrucksvoll thematisierten und als ihr herausgehobenes Zukunftsthema darstellten. Das war beneidenswert realpolitisch. Zur AfD ist nicht viel zu sagen. Sie und ihre Gesinnungsgenoss*innen überall spielten zumeist erfolgreich mit den Ängsten der Menschen, verbanden sie mit den Migrationsbewegungen und im Osten Deutschlands noch mit der realen und deshalb auch gefühlten Zweitklassigkeit gegenüber dem Westen. Sie wurden Erste in Brandenburg und Sachsen. Die Warenkörbe der Volksparteien konnten dem nur wenig entgegensetzen. Der LINKE ging es nicht anders, wenn auch aus anderen Gründen und mit einem anderen „Warenkorb“; siehe oben. Offensichtlich haben Wählerinnen und Wähler den Zusammenhang unserer kritischen Vielfalt mit unserer kapitalismuskritischen Grundfrage nicht wahrgenommen. Oder sie haben vielleicht – besser als wir – den Charakter von Wahlen in parlamentarischen Systemen begriffen. Da geht es nämlich nicht so sehr um Grundsätzliches, sondern um die nächsten vier oder fünf Jahre. Da greift man auf, was einem unter den Nägeln brennt und verändert werden muss; ob im ökonomischen und politischen System oder gegen dieses System. Lothar Bisky hat einmal bemerkt, wir wären Systemopposition. Ja, das sollten wir sein und bleiben. Das alltägliche Leben zwingt uns dazu und liefert uns die Begründungen dafür. Rosa Luxemburg nennt die Kunst, Systemopposition und Alltag zu verbinden, „revolutionäre Realpolitik“. Das ist die Kunst, die wir beherrschen müssen.

(geschrieben für Links, Juni 2019, 27. Mai 2019)

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