Die Sache mit der Identität

„Wenn alles unveränderlich wäre, ließe sich alles in eine unveränderliche Ordnung der Vernunft bringen, wäre jedes Geheimnis ungeboren, jede Frage gefragt, das Unvorhergesehene vorausgesehen, Außervernünftiges nicht denkbar.“ Das stellt Jurij Brezans Krabat erschrocken fest. Nur die Vernunft, nur Vorhergesehenes, keine Veränderung für ewig? Keine Phantasie, nichts Neues, keine Überraschungen – ziemlich langweilig. Oder noch schlimmer? Wenn das so wäre, wäre alles nur mit sich selbst identisch, so wie wir es wahrnehmen und ihm Sinn geben in einer unveränderlichen Ordnung. Nichts wäre uns fremd und wert, es weiter zu erkunden. Allem aber, das diese Bedingung nicht erfüllt, könnten wir keine Bedeutung zumessen. Es wäre fremd, ohne Sinn für uns. Es erschiene uns gefährlich, zerstörerisch und wäre also abzuweisen.
Schwierig zu verstehen? Ich versuche es am Beispiel: Die deutsche Sprache. Wer zu uns kommt, muss sie lernen, sonst kann seines Bleibens nicht sein. Die Dazukommenden lernen eine Fremdsprache. Was für sie Fremdsprache, ist für uns Muttersprache. „Mutter“-Sprache. Das schmeckt wie bei Muttern, das kümmert sich um uns und unsere Gedanken wie eine Mutter. „Mutter“ ist das Unveränderliche in unserem Leben, so auch die Muttersprache; wie auch der „Vater“ – und das Vaterland. Abweichungen sind landläufig „stief–“ und wenn man sie auch noch so liebt. „Stief-ׅ“ kommt vom germanischen „steupa-“ und hatte dort die Bedeutung „abgestutzt, beraubt“. Die Sache wird wieder philosophisch: Stutzt uns das Fremde ab, sind wir angesichts des Fremden der Gefahr der Beraubung ausgesetzt, der Gefahr der Beraubung unserer Identität, des Vernünftigen, der Sicherheit des Vorhersagbaren? Bleiben wir für eine Antwort bei der Sprache. So sehr uns die Muttersprache als Konstante in unserem Leben erscheinen mag: Sie ist alles andere als konstant, weil in ständiger Veränderung begriffen. Diese Veränderung hat verschiedene Ursachen und vielfältige Folgen. Eine wesentliche Ursache ist die Begegnung mit Anderen, mit dem Fremden, mit dem nicht Identischen. Solche Begegnungen sind in dieser bunten und zugleich einen Welt unvermeidbar. Begegnung führt zu Austausch. Die Ergebnisse werdensprachlich fixiert. Deshalb strotzt unsere Sprache nur so von Fremdwörtern, Lehnwörtern, Lehnübersetzungen. Nur durch diese Anreicherungen konnte die deutsche Sprache überhaupt überdauern. Hätten sich die Muttersprachlerinnen und Muttersprachler dagegen gewehrt, wäre die Sprache unbrauchbar geworden, wäre gestorben. Allerdings ist die deutsche Sprache, wie jede andere auch, daraus nicht zu einem ungeordneten, verwirrenden Gemisch von Eigenem und Fremden geraten. Jede Sprache eignet sich das zunächst Fremde auf eigene Art und Weise an. Feilt es sich zurecht. Das Fremde wird so ebenfalls zum Eigenen. Das Fremdwort kann man noch als solches Erkennen. „Administration“ ist uns zwar verständlich, „Verwaltung“ scheint uns dagegen vertrauter. Das Lehnwort hat sich bereits bis zur Unkenntlichkeit seiner Herkunft angepasst. Das „Banner“ ist uns so geläufig wie die „Fahne“. Es klingt nur feierlicher. Klappt es gar nicht mit dem Fremden, brauchen wir es jedoch auch für uns, wird eben Glied für Glied übersetzt und aus dem lateinischen „conscientia“ wird das „Gewissen“. Wir kommen nicht aus ohne das Fremde, das Andere. Wir können es nicht abweisen. Unsere Welt ist kein festgeleimtes Puzzle, in dem jedes Teil seinen unveränderlichen Platz hat. Die Welt ist vielmehr ein buntes Kaleidoskop. Mit jeder Erdumdrehung ordnen sich die Steinchen neu und es entstehen wieder und wieder bunte Bilder einer faszinierenden, aber ständig in Veränderung befindlichen Wirklichkeit. Manche wollen allerdings davon nichts wissen. Deshalb nennen sich „die Identitären“ „Identitäre“. Nur das Eigene, vermeintlich Identische gilt. Multikulturelles, das Fremdes zulässt und gar schätzt, erscheint ihnen einzig zerstörerisch. Viele Kulturen ja, Austausch, gegenseitige Beeinflussung, nein. Bei Jurij Brezan geht es für sie so weiter: „Kein Himmel, keine Hölle. Und keine Furcht.“ Wären Identitäre darob nicht beneidenswert? Nein und nochmals nein. Für Brezan folgt aus „keine Furcht“: „freilich auch keine Hoffnung“. Das heißt aber doch: auch keine Zukunft!

(Geschrieben für „Links“ September 2019, 25.08.2016)

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