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Wenn Genscher sieht, was Du nicht siehst …!

Alle kennen das Spiel: „Ich seh‘, ich seh‘, was Du nicht siehst und das ist …“ Ein ehrliches Spiel, muss man doch am Ende den Gegenstand nennen, der die gefragte Farbe hat. Eine gar nicht so ehrliche Abart dieses Spiels findet sich im ebenso bekannten und oft strapazierten Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Alle, die nicht dumm sein oder es vermeiden wollten, ihr Amt zu verlieren, erblickten und lobten die gar nicht vorhandenen Kleider des Kaisers. „Sie sahen, sie sahen“ bunt gemustert, was nicht wirklich existierte. Erst ein Kind deckte den Schwindel auf. Der Kaiser aber „… er dachte bei sich: ,Nun muss ich aushalten.‘ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.“ Kann man so einfältig sein? Oder waren der Kaiser und die Kammerherren besonders schlau? Märchen verallgemeinern in einer schönen und lehrhaften Geschichte, was die Wirklichkeit immer wieder konkret, brutal und gar nicht so schön bietet. Weil im Krieg zum Beispiel die Wahrheit immer zuerst stirbt, ist es gang und gäbe, den Kriegsgrund in Wahrnehmungen zu suchen, die Wirklichkeit nur vortäuschen. Ich seh‘, ich seh‘, was Du nicht siehst, und das sind – Polen, die den Sender Gleiwitz überfallen, nordvietnamesische Schnellboote, die zwei US-amerikanische Zerstörer im Golf von Tonking angreifen, irakische Massenvernichtungswaffen usw. Gesehen hat es niemand, so getan, als ob, haben viele: Politiker, Feldherren, Diplomaten, Journalisten, einfache Leute. Sie trugen die Schleppe, die gar nicht da war, und es begannen der 2. Weltkrieg, der Vietnamkrieg, der Irakkrieg. Die Liste ist wohl beliebig verlängerbar.
Aber was hat das alles mit Genscher zu tun, dem unumstrittenen Helden von Prag? Dort war ihm keine Täuschung nachzusagen. Wohl aber der Führung der DDR, die die Welt wider alle Fakten sehen lassen wollte, dass die Leute legal über Dresden aus der DDR ausreisten. Diese Führung stand bald nackt da. Zu Genscher, dem späteren Chodorkowski-Befreier, müssen wir dennoch zurück, denn da gibt es noch eine andere Geschichte. Sie trug sich 1977 in Argentinien zu und zwischen Argentinien und Deutschland. Im Jahre 1976 war in dem südamerikanischen Land eine Junta von Generälen an die Macht gekommen. Sie legitimierten ihren Putsch mit einem Kampf gegen Terroristen. Solche gab es dort zwar kaum, aber die Welt und das Volk sollten sie sehen. Denn wer sie nicht sah, war entweder dumm oder für Geschäfte mit Argentinien nicht geeignet. Beweise sollten beigebracht werden. Dafür taugten europäische Studentinnen und Studenten vorzüglich. Es war die Revolte der 68er noch in guter Erinnerung, und es verbreitete gerade die RAF in Deutschland mit ihrem Terror Angst und Schrecken. Wer aus Europa zu dieser Zeit in Argentinien studierte, war hoch gefährdet, der Junta „neue Terroristen“ abzugeben, zumal wenn man sich gegen Unterdrückung wandte oder sich gar früher im Umfeld von Rudi Dutschke bewegt hatte. Die Deutsche Elisabeth Käsemann, eine junge Frau, war eine von ihnen. Sie wurde verhaftet, gefoltert, vergewaltigt, unter der Hand aber der Bundesrepublik auch zum Freikauf angeboten. Die deutschen Verantwortlichen taten jedoch so, als sähen sie nur die vorgebliche Terroristin. Andere Länder verhielten sich anders. Dem deutschen Außenminister – es war Herr Genscher –, seinem Botschafter – einem Herren Kastl – und auch dem Präsidenten des Deutschen Fußballbundes – Herrn Neuberger – war das Schicksal von Frau Käsemann, wie es aussieht, egal. Sie wollten doch geschäftsfähig bleiben, ein Freundschaftsspiel der Nationalmannschaften und die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft nicht gefährden. Jegliche Intervention schlug man aus. Elisabeth Käsemann wurde bei einem fingierten Kampf gemeinsam mit 15 anderen Gefangenen erschossen. Getroffen im Genick und Rücken. Das war 1977 (!). Die ARD berichtete am 05. Juni 2014 (!) zu später Nacht ausführlich. Klaus von Dohnanyi und Hildegard Hamm-Brücher gehörten einst auch zu den Schleppenträgern von Genscher. Er meinte nun, „man hätte etwas tun müssen“. Ihr war damals „schon ein wenig mulmig.“

(Geschrieben für Links Juli/August 2014, 24.06.14)

Hallo Welt!

Dies ist der erste Artikel in meinem neuen Blog, für den meine alte Seite weichen musste. Er wird mich durch den Bundestags-Wahlkampf begleiten und ich werde hier verschiedene Dinge nieder schreiben. Die alten Rezepte wurden wieder hergestellt und können über die Rezeptseite erreicht werden. Auch wenn sie zur Zeit noch auf der Homeseite stehen, werden sie hier bald verschwinden, wenn neue Artikel erscheinen.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.

Peter Porsch